Medien & Gesellschaft
Wer weiß schon , was Tugenden sind?
Und wieder eine Textsammlung aus den Federn berühmter Autoren, denen Ulrich Wickert seinen Namen lieh? Gott sei’s gelobt: Nein!
Der Tagesthemenmoderator bemüht den bereits millionenmal totgeschlagenen Imperativ: Wenn die Gesellschaft besser werden soll, dann kann nicht die Gesellschaft dies leisten, sondern nur der Einzelne. Der Verfasser weiß dazu Rat: "Vor das Handeln gehört das Nachdenken. Denn ohne Orientierung, ohne Überlegung wird kein Ziel zu erreichen sein, bleibt jegliches Handeln ziemlich wahllos." War das denn jemals anders, fragt sich der erstaunte Leser?
Der Handelnde benötige Orientierungshilfe, also Werte und Tugenden, sagt der Autor. Und dieser Satz rechtfertigt das Buch, das sich wie eine politisierende Homilie liest, das heißt als predigende Übersetzung wichtiger Grundtatbestände unserer kulturellen Verfassung in die Sprache des mehr oder weniger ungebildeten Normalverbrauchers. Gemäß der jahrhundertealten Predigtkultur kommt auch immer wieder eine Moral zum Vorschein, die als Imperativ den Leser in Bewegung bringen soll.
Nun ist gegen ein Predigtbuch überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil (auch der Verlag stimmt, Wickert steht dort neben Karol Woityla im Regal). Vielleicht ist es die Not der Zeit, daß die kirchliche Weise, die richtigen Leitlinien zu formulieren, auf Grund ihrer religiösen Bindung kein Gehör mehr findet. Und da die Medien in vielem an die Stelle alter Autorität getreten sind und wir allabendlich mit Andacht die Inhalte der Tagesthemen in uns aufnehmen, mag es nur folgerichtig sein, wenn uns ein Mann der Medien auch noch die Moral vermittelt, nach der die Gesellschaft sich formen muß, nach der wir leben sollten.
Dabei ist es bedauerlich, daß Ulrich Wickert es an mancher Stelle mit Klitterungen oder Engführungen bewenden läßt. Wie schade, daß das Unwohlsein mancher Zeitgenossen mit dem Begriff "deutsch" auf die zwölf Jahre nach 1933 komprimiert wird. Es wäre bei näherer Kenntnis doch sicher fruchtbar gewesen aufzuhellen, daß "deutsch" im Althochdeutschen "tiutisc", also "völkisch" bedeutete – ein Anspruch der deutschsprachigen Stämme auf eine gemeinsame Volksgemeinschaft, der bekanntlich immer ein Anspruch war und nicht Realität.
Das Unwohlsein der Deutschen mit ihrer Identität ist also mitnichten eine Folge der Jahre nach 1933, sondern ein Kernbereich der Seele der Deutschen, der bis in die Antike zurückreicht. Es ist nochmals schade, daß hier gerade in der schwierigen Aufgabe des Moralisierens, die eine erlernbare und an Konvikten und Priesterseminaren studierbare Technik ist, das Tatsächliche nicht ernstgenommen ist.
Blutleer müssen daraus resultierende Schlußfolgerungen bleiben und unbefriedigt die Leser, die das Buch nicht nur seines mit dem fotogenen Porträt des prominenten Moderators geschmückten Einbandes wegen kaufen. Dieser verrät übrigens, worum es auch geht: Bücher können Werten einen Wert geben – manche Bücher geben allerdings auch nur ihren Verlagen einen Wert, was hier aber – Gott sei’s nochmals gelobt – nicht der Fall ist. Denn der Leser, der sich viel stärker aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gelöst hat, als viele Autoren und Verlagslektoren glauben, weiß den Wert des vorliegenden Buches sehr wohl einzuschätzen.
Zu einer der wichtigsten Tugenden gehört ohne Zweifel, nicht zuviel zu reden. (Notabene: Spötter sagen, daß es zu den größten Verbrechen gehöre, zuviel zu reden, und daß es keine Kriege geben könne, würde nur halb soviel gesprochen.) Und schlimmer, wenn zuviel Geredetes, Überflüssiges, Peinliches auch noch gedruckt wird. Und hier finde ich eine Stelle, es ist nicht die einzige, in der ich Ulrich Wickert nur zustimmen kann: "Doch wer weiß schon, was Tugenden sind?"
mhh
13.01.2002