Medien & Gesellschaft

Aufbau und Abbau

Ein Franzose, danach gefragt, woran er sich erinnert, wenn er an den August 1961 denkt, antwortete: War das nicht der Sommer, in dem unsere Tochter das P?nktchenkleid bekam? Ein Jahrzehnt nach dem Mauerbau wusste nicht die H?lfte der Bundesb?rger, in welchem Jahr, die Berliner Mauer gebaut wurde. Und heute, f?nfzig Jahre sp?ter? Wer h?tte sich schon erinnert, wenn Honeckers Wunsch wahr geworden, wenn nicht der 9. November 1989 gewesen w?re? Wenn die Berliner Mauer nicht weltpopul?r, ja "Eine der gro?en politischen Ikonen der Menschheit" geworden w?re? Wem die zitierte Wertung die Brust eng macht, muss sich nicht sch?men. Es ist schon immer leichter gewesen, ?ber etwas zu reden, was nicht selbst erlebt wurde. Mit der Mauer grub sich die DDR bereits 1961 das Grab, in dem sie sp?t, sehr sp?t begraben wurde. F?r wenige, sehr wenige, der Menschheit wirklich ein Erlebnis, war die Mauer f?r die Menschen der ganzen Welt 28 Jahre ein fernes, fremdes Ereignis. Sie ist eine vage Erwartung f?r anreisende Touristen, mit denen die Stadt Berlin ihr Gesch?ft machen kann. An die Mauer wird, wo und wann immer m?glich, erinnert. Es muss erinnert werden!

Das machen auch die B?cher zur Mauer, die mauerhoch in diesem Jahr vor uns aufgestapelt werden. Es ist das "Jubil?umsjahr", wie dann und wann schon zu h?ren war und was ebenso schwer zu verkraften ist wie die Bezeichnung ?Ikone". Zumal, wenn bedacht wird, was heutzutage alles Ikone ist. Dass in dem von Klaus-Dietmar Henke herausgegebenen volumin?sen Band "Die Mauer" ausgerechnet die Ikone wiederholt hochgehoben wird schmerzt. Wer hat die Mauer je gemocht? Wer hat sie nicht von der ersten Sekunde an gehasst? Wer in der Stadt, die auch Gro?-Berlin hie?? Das ist die direkte Frage, die nicht direkt beantwortet werden muss in ?Die Mauer". Das ist kein Buch, das Zeitzeugen zitiert, das Zeitdokumente Zeile f?r Zeile wiedergibt. Was nicht ausschlie?t, dass kein Satz in den Beitr?gen so oft auftaucht wie der von Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Das macht stutzig. Gabs keine Abstimmung zwischen den ?ber zwei Dutzend der beteiligten Autoren? Es wird Abstimmung gewesen sein. Zumindest in der Festlegung der Themen zur Sache, die Berliner Mauer hei?t und der von ?ber zwei Dutzend Positionen aus begegnet wird. Was es da zu sagen gibt? Kaum das, was Entdeckung ausmacht und Erstaunen ausl?st. Das Buch ist eine Addition von Referaten, die Wissenschaftler nicht f?r Wissenschaftler verfassten. Das macht den Wert des Buches.

Die Addition der Aspekte zur Mauer ist den Autoren wichtiger als die Analyse. Was nicht bedeutet, dass sich die Wissenschaftler unter wissenschaftlichem Wert verkaufen. In den komprimierten Texten wird darauf geachtet, in der Zusammenfassung der Fakten genau zu sein. Das ist selbstverst?ndlich, m?chte man sagen, nicht jedoch ohne weiteres zu machen. Die Mehrzahl der Referate-Autoren wurde nach 1961 geboren und reflektiert Angeschautes und Angelesenes. So kommts, dass sich mancher Lappsus eingeschlichen hat. Wer aber wird morgen korrigieren, was heute schon falsch ist? Wie unwidersprochen stehen lassen, wenn eine Autorin von "den Demonstrationen auf dem Alexanderplatz" im Jahr 1989 spricht? Da ?berlagert Leipzig Berlin. Was soll?s? Zeitzeugen sind zumeist gro?z?gige Leute, die schmunzeln, wenn ihnen die Kinder die vergangene Zeit erkl?ren.

Das Buch "Die Mauer" kann wie ein Erinnerungsbuch gelesen werden. Wieder und wieder gibt es Anregungen, um ?ber Erfahrenes, Erlebtes, Gewusstes, Gedachtes nachzudenken. Oder, besser noch, noch einmal neu nachzudenken. Da diese Haltung im Leser immer wieder geweckt wird, macht sie ihn neugierig und so bereit, Kapitel f?r Kapitel zu lesen. Dass diese Lust nicht verringert wird, hat auch mit der Schreibweise der Wissenschaftler zu tun. Ihr Stil ist frei von der h?lzernen Art, in der noch eine Generation zuvor vergleichbare Texte verfasst wurden. Das Buch "Die Mauer" hat mehr Solidit?t und Echtheit als die farbigen Betonbrocken, die in den Historienshops der Stadt Berlin verkauft werden. Soviel Beton und Farbe hat es in der DDR nie gegeben!

Bernd Heimberger
09.05.2011

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Die Mauer. Errichtung. Überwindung. Erinnerung

CMS_IMGTITLE[1]

München: dtv 2011
608 S., € 24,90
ISBN: 978-3-423-24877-8

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.