Medien & Gesellschaft
Ganz unten , ganz nah
Eines vorweg: Wer dieses Buch erworben hat, kann definitiv nicht zur Unterschicht gehören. Zwar soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob 14,95 Euro für 200 Seiten im Taschenbuchformat gerechtfertigt sind, Heidemarie Danzer jedoch müsste in ihrem Job als Menübotin dafür insgesamt 35 Essen an Senioren ausliefern, während dies für den ehemaligen Vorstandsassistenten Volker Hoppe circa 1,5 Tagessätze seines monatlichen Hartz IV-Satzes über 351 € bedeuten würden. Gemäß Thilo Sarrazin, dem streitbaren, ehemaligen Berliner Finanzsenator könnte sich ein Bundesbürger damit aber auch vier Tage lang vollwertig und gesund ernähren.
Wie an diesen Zahlenbeispielen leicht zu erkennen ist, bewirkt das vorliegende Buch vor allem eines: Es rüttelt an den im Denken seiner Leser verankerten Verhältnismäßigkeiten und öffnet ihnen die Augen für die Probleme vieler Mitbürger im Cent-Bereich. Die drei Autoren Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt haben über mehrere Jahre hinweg verschiedene Familien, Hartz IV-Empfänger und Arbeiter im Niedriglohnsektor begleitet und ihren desillusionierenden Weg dokumentiert. Julia Friedrichs galt nach ihrem Debüt "Gestatten: Elite" als die deutsche Nachwuchshoffnung für investigativen Journalismus und tingelte fortan als Expertin in Sachen Elite von Talkshow zu Talkshow. Nun hat sie sich gemeinsam mit ihren Co-Autoren der Gesellschaft von der anderen Seite her genähert.
Das vorliegende Buch ist quasi als Nebenprodukt zu einigen mehrfach ausgezeichneten Fernseh-Reportagen der drei Autoren erschienen. So erhielt z. B. die Sozialreportage "Abgehängt - Leben in der Unterschicht" von Julia Friedrichs 2007 den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und den Ludwig-Erhard-Förderpreis. Friedrichs, Müller und Baumholt haben sich vorrangig auf das Beobachten und Begleiten mehrerer Einzelschicksale verlegt. Es wird nur am Rande gewertet und bewertet, stattdessen werden Fakten geschildert: Man sitzt am Tisch mit Familie Weber und rechnet das Geld durch, das der dreiköpfigen Familie für die nächsten Tage zur Verfügung steht. Gleichzeitig kann sich der Leser aus Interviewfetzen aber auch ein Bild über die Personen und deren singulär vorhandene Arbeitsunlust entwerfen. Wer jedoch wie in "Gestatten: Elite" ein sozialkritisches Bekenntnis von Julia Friedrichs erwartet, muss schon intensiv zwischen den Zeilen lesen. Denn vordergründig kommt für den Leser die Botschaft rüber, dass jede Medaille immer noch zwei Seiten hat.
Das Buch ist unterlegt mit zahlreichen quantifizierenden Aussagen des Statistischen Bundesamtes oder ähnlicher Institute. Diese Aussagen sind alleinstehend und werden im Fliesstext weder aufgegriffen noch kommentiert, zeigen dem Leser aber unverkennbar einen Trend der wachsenden Verarmung in Deutschland. Der Leser lernt darüber hinaus, dass Sonderschulen mittlerweile Förderschulen heißen und dass auf einer solchen, nämlich der Wattenscheider Fröbelschule das primäre Ziel des Rektors Christoph Graffweg ist, die Schüler explizit auf Hartz IV vorzubereiten. Kein Wunder: Schließlich haben es während seiner gesamten Amtszeit lediglich vier seiner ehemaligen Schüler geschafft, eine Lehrstelle zu finden. Im Mathematik-Unterricht wird daher nicht mit Krediten gerechnet, sondern der Haushaltsplan für die nächste Woche erstellt. Grundlagen sind dabei keine sechsstelligen Beträge, sondern Hartz IV-Sätze.
Wer von Julia Friedrichs und "Gestatten: Elite" eine runde Sache gewohnt war, wird von dem vorliegenden Buch womöglich enttäuscht werden, da sich der Leser nach abgeschlossener Lektüre mitunter so vorkommt, als ob er sich einen ganzen Abend lang im Fernsehen von "Frontal 21" über "Die Story" zu "Monitor" gezappt habe. Trotzdem schafft es das Buch, den Leser zu emotionalisieren und mit einem düsteren Bild zurückzulassen. Erfolgsmeldungen sind im "abgehängten Prekariat" rar, stattdessen wird die Alltagstristesse von Menschen aus der Unterschicht transportiert. Wer auf Happy Ends steht, sollte dieses Buch und am besten auch die Realität ignorieren, denn Happy Ends haben ihren Ursprung irgendwo, aber garantiert nicht auf dem Wattenscheider Arbeitsamt oder der dortigen Fröbelschule.
Christoph Mahnel
25.05.2009