Medien & Gesellschaft
Weltliteratur lesen!
Was Ende der 70er-Jahre mit der "ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher" als "Versuch" startete, "in größerem Maßstab vornehmlich junge Menschen wieder zum Lesen zu bringen" - so der damalige Herausgeber der Anthologie Fritz J. Raddatz -, erlebt nun in der "Neuen ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur" eine bemerkenswerte Aktualisierung: Ohne viel historischen Ballast und somit auch kompakter als in der Vorgängerpublikation abgehandelt, werden in den einzelnen Beiträgen unterschiedlicher Literaturkenner jeweils interessante Einzelaspekte und Inhalte ausgewählter Werke aufgegriffen, um die derart präsentierten Titel als mögliche "lebenslange Freunde" zu empfehlen.
Als eine erste Orientierungshilfe sind die Buchtitel in acht aufeinander folgenden, farblich unterschiedenen Kategorien angeordnet: "Angst", "Nacht", "Trauer", "Verirrt", "Sex", "Wer bin ich?" und "Aufbruch", wobei unter dem letztgenannten Abschnitt die meisten Werke aufgeführt sind, nämlich 17. Eine Sonderstellung nehmen Homers "Odyssee" und Ovids "Metamorphosen" ein, wozu man in den passenden Kategorien "Wer zeigt mir den Weg, wenn ich mich verirrt habe?" (kurz: "Verirrt") und "Wer kommt mit, wenn ich aufbreche?" (kurz: "Aufbruch") auf jeweils 14 Seiten vier sich ergänzende Beiträge findet. (Zum Vergleich: Der Beitrag zur "Lutherbibel" füllt insgesamt - inklusive Abbildung - kaum zwei Buchseiten.)
Die Autorinnen und Autoren der Anthologie, darunter namhafte Schriftsteller, Schriftstellerinnen und weitere Prominenz, berichten von Lektüreerfahrungen und Erinnerungen, schreiben über Erlebtes und Recherchiertes, über Aktualität oder auch Zeitlosigkeit der einzelnen Werke. Manchmal fasziniert das Archetypische ("Odyssee", "Der alte Mann und das Meer", "Frankenstein"), manchmal die Farbigkeit des Lebens ("Der Gott der kleinen Dinge", "Mitternachtskinder") oder die Sprachkunst ("Faust. Der Tragödie Erster und Zweiter Teil", "Ulysses"); es faszinieren aber auch immer wieder Politik und Gesellschaftskritik ("Das Geisterhaus", "Deutschland. Ein Wintermärchen", "1984", "Herr der Krähen"), Emotionen und Emanzipation ("Stolz und Vorurteil", "Jane Eyre") - um nur einige Schwerpunkte und Titel der "Neuen ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur" zu nennen.
Es ist müßig, über die von einer Jury getroffene Auswahl und deren Präsentation in Kategorien zu streiten, denn beabsichtigt ist nicht die Zusammenstellung eines literarischen Kanons oder ein literarhistorisch vertiefter Zugang zu den Texten. Vielmehr geht es um grundsätzliche Orientierung im Hier und Jetzt und darum, Lust auf erzählende Weltliteratur zu machen. Es geht um eine Auswahl von Büchern mit Substanz, die jede Generation neu und anders lesen kann. Was hier zählt, das sind Geschichten, Schicksale und Gedanken, die berühren, Möglichkeiten der Selbstbegegnung und Welterfahrung, literarische Ideen, die zünden, und Funken, die überspringen, kurz: "100 Buchempfehlungen für alle Lebenslagen".
Das Vorhaben ansprechender Empfehlungen ist durchweg gelungen. Auch wenn man nicht alle besprochenen Werke - darunter einige mit über 1000 Seiten Umfang - durchlesen wird und kann: Dieses eine Buch zur Weltliteratur aus der ZEIT-Redaktion komplett von Anfang bis Ende zu lesen, lohnt sich auf jeden Fall und ist ein großes Vergnügen.
Holger Schwinn
12.05.2025