Medien & Gesellschaft
Daten schießen Tore
Der FC Liverpool, einer der traditionsreichsten Fußballvereine auf der Insel, hat in den vergangenen Jahren nach einem jahrzehntelangen Durchschreiten eines Tränen-Tals zu alter Stärke und Bedeutung zurückgefunden. Nach der Katastrophe von Brüssel beim Finale des Europapokals der Landesmeister 1985, bei dem 39 Menschen nach durch Liverpool-Fans provozierten Zuschauerausschreitungen ihr Leben ließen, hatte der glorreiche FC Liverpool rund drei Jahrzehnte warten müssen, um wieder im allerobersten Regal des europäischen Fußballs mitspielen zu dürfen. Diese Entwicklung in den letzten Jahren schreibt man gemeinhin Jürgen Klopp zu, der von 2015 bis 2024 die Geschicke des FC Liverpool leitete und dort zu einer Vereinslegende aufschwang. Doch war es bei aller Wertschätzung des deutschen Erfolgstrainers nicht nur dessen taktischen Kniffen und Motivationsfähigkeit zu verdanken, dass der FC Liverpool unter dessen Ägide etliche Titel auf nationaler wie internationaler Ebene feiern durfte.
Schon vor Jürgen Klopps Ankunft an der Anfield Road war dort eine entscheidende Weichenstellung getätigt worden, indem eine Datenabteilung etabliert wurde, die sich zur Aufgabe gesetzt hatte, mit Hilfe von Daten bessere Entscheidungen für den Verein treffen zu können. Chef dieser Datenabteilung war Ian Graham, ein fußballverrückter Datenanalyst, der dank einiger glückliche Umstände seine Leidenschaften zum Beruf machen konnte. Graham war nach seinem Studium zunächst bei den Tottenham Hotspurs gelandet und hatte dort erste Schritte in der Datenanalyse für Fußballvereine gemacht. Einige personelle Umstände später war er schließlich im Nordwesten Englands gelandet, bereit dafür, mit seinem Wissen den ruhmreichen FC Liverpool wieder zurück an die Spitze zu führen.
Ian Graham hat seine Erfolgsgeschichte niedergeschrieben: "Wie man die Premier League gewinnt" lautet der Titel der deutschsprachigen Übersetzung seines im vergangenen Jahr im englischen Original erschienenen Buches. Darin schickt er seinen eigenen Werdegang voraus, bevor er sich verschiedenen mathematischen Konzepten rund um die Datenanalyse des Spiels auf dem grünen Rasen widmet. Das vorliegende, im Werkstatt Verlag erschienene Buch besticht dabei nicht nur durch die faszinierende Reise in den Maschinenraum eines Fußballklubs, sondern auch durch den Dialog, den Graham mit seinem Leser führt und dabei immer wieder Denkanstöße gibt, beispielsweise zu statistischen Phänomen oder bei der mathematischen Modellierung von fußballerischen Sachverhalten.
Als zahlenaffiner Anhänger des Fußballs verschlingt man Grahams Ausführungen förmlich. Doch auch der der Macht der Zahlen weniger zugeneigte Leser wird sein Vergnügen mit dem vorliegenden Buch haben, wenn er beispielsweise erfährt, dass das Projekt der Datenabteilung beim FC Liverpool dank des ehemaligen Trainers Brendan Rodgers schon frühzeitig auf der Kippe stand. Dieser war ein Bauchmensch der alten Fußballschule und den Neuerungen in der Datenabteilung gegenüber wenig aufgeschlossen. So kam die neu gegründete Abteilung ob der Vorbehalte von Rodgers anfangs nicht so recht ins Rollen. Erst die Bereitschaft von Jürgen Klopp, sich auf die Zahlen und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse einzulassen, brachte Bewegung in den gesamten Verein. Hilfreich war Graham dabei, dass er zu Beginn von Klopps Amtszeit diesem mit Hilfe der Daten dessen letzte Katastrophensaison bei Borussia Dortmund nachvollziehbar erklären konnte.
"Wie man die Premier League gewinnt" geht weit darüber hinaus, was man aktuell im Fernsehen an statistischen Erklärungsversuchen angeboten bekommt. Die sogenannten "Expected Goals", also die ob der Güte der Chancen zu erwartenden Tore, stellen beileibe nicht die neuesten Erkenntnisse in der Fußballdatenanalyse dar. "Possession Value" und "Pitch Control" sind weit darüber hinausgehende Konzepte, mit denen heutzutage auf Basis umfangreicher zur Verfügung gestellter Tracking-Daten Spiele und Spieler analysiert werden können. Die Entwicklung, die dieser Bereich in der Zukunft mit Hilfe von KI nehmen wird, skizziert Graham ebenfalls und lässt damit erahnen, wohin die Reise im Fußball-Business gehen wird. Das vorliegende Buch unterhält den Leser vorzüglich, doch fordert es zugleich seine Aufmerksamkeit und öffnet dabei seinen Horizont zur wichtigsten Nebensache der Welt. Kurzum, ein Fußballbuch der Extraklasse!
Christoph Mahnel
12.05.2025