Medien & Gesellschaft

Der lange Weg nach Bern

Gemeinhin gilt der Triumph der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1954, das sogenannte "Wunder von Bern", als die gesellschaftliche Geburtsstunde der noch jungen Bundesrepublik. Sehr viel ist dazu insbesondere in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschrieben oder auch verfilmt worden. Herbergers Taktik, das Wetter vom Fritz, die Stollen von Adidas, aber auch die in der Kabine verabreichten Vitaminspritzen sind im Allgemeinwissen des fußballinteressierten Zeitgenossen fest verankert. Doch der Weg in die Schweiz, schließlich fand das dortige Turnier gerade mal neun Jahre nach Kriegsende statt, ist bis dato nur wenig tiefgehend beleuchtet worden. In den ersten Jahren nach dem Krieg war der deutsche Fußball von der Weltgemeinschaft noch geächtet und verstoßen gewesen. Immerhin mussten rund fünfeinhalb Jahre nach Kriegsende vergehen, bis Deutschland überhaupt erst wieder ein Länderspiel bestreiten durfte.

Den Weg dieser ersten fünfeinhalb Jahre nach Stunde Null erzählt das vorliegende Buch "Herbergers Kandidaten", spannend und mit enorm viel Fachwissen komponiert von Fabian Siegel. Der Journalist, der mit seiner Expertise bis dato meist im Hintergrund agierte, tilgt mit diesem Buch einen weißen Flecken im Segment der Fußballbücher. Siegel hat als renommierter Datensammler bereits hinreichend seine Expertise nachgewiesen. Mit dem nun im Werkstatt Verlag herausgebrachten Buch begeistert er Fußballfans und lässt keine Wünsche offen. Unzählige Archive hat er für seine detailgetreue und facettenreiche Erzählung durchforsten müssen, um den Aufwand herauszuarbeiten, den viele Fußballpioniere nach 1945 betrieben haben, um Deutschland wieder auf die Fußballlandkarte zu bringen.

Siegel startet im Prolog des vorliegenden Buches beim letzten Länderspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft im November 1942, bevor er seinen chronologischen Bericht im Mai 1945 einsetzen lässt. Scherbenhaufen aller Orten, Gefallene, Versehrte und Verwundete, das tägliche Überleben als oberstes Gebot. Wer wird in dieser Zeit überhaupt Gedanken ans runde Leder verschwenden? Doch gerade eine Beschäftigung wie der Fußball, ob selbst aktiv dem Ball hinterherjagend oder passiv sich am Spielfeldrand mit der eigenen Mannschaft freuend oder auch mit ihr leidend, fachte den Lebensmut der Deutschen wieder an. Der Hunger und die Lust auf Fußball werden in "Herbergers Kandidaten" greifbar. Siegels Blick richtet sich wie ein Radar über alle Zonen hinweg und macht dabei auch deutlich, wie unterschiedlich das Leben der Deutschen damals in den einzelnen Zonen vonstattenging.

Über allen Vorgängen im damals zersplitterten deutschen Fußball wachte Bundestrainer Sepp Herberger, dem stark daran gelegen war, dass seine wichtigsten Eckpfeiler wie Fritz Walter heil aus dem Krieg zurückkehrten und sich in den Wiederaufbau einbringen konnten. Darüber hinaus musste er natürlich neue Kandidaten im Norden, Westen, Südwesten und Süden sichten, was in einer Zeit ohne Fernsehen und Internet schon eine enorme Herausforderung bedeutete. Doch war auch die Erreichbarkeit von weit entfernten Fußballstadien aufgrund der maroden Infrastruktur jedes Mal ein Abenteuer sondergleichen. Dieses Bild der Nachkriegszeit transportiert Fabian Siegel in "Herbergers Kandidaten" exzellent. Man spürt die Kraftanstrengungen vieler Menschen, die mit aller Macht wieder ins Leben und auf den Platz zurückkehren wollten. Viele von "Herbergers Kandidaten" haben in diesen Jahren der Entbehrung alles dafür gegeben, um am 22. November 1950 in der Startelf des ersten Länderspiels nach dem Krieg stehen zu dürfen.

Das zähe Ringen um die Wiederaufnahme in den Weltfußballverband, die Oberliga-Spiele und Endrunden zur deutschen Meisterschaft, die begeisternden Repräsentativ-Spiele zwischen den einzelnen Zonen und die Einzelschicksale der zahlreichen Kandidaten für das Spiel gegen die Schweiz sind die roten Fäden, die sich durch das vorliegende Buch ziehen. Fabian Siegel ist ein außergewöhnliches zeitgeschichtliches Werk gelungen, das die Zeit des Wiederaufbaus des deutschen Fußballs erzählt, die gleichermaßen auch die Basis war für das, was knapp vier Jahre nach dem ersten Länderspiel folgen sollte, die Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz mit dem triumphalen Finalsieg gegen die als unbesiegbar geltenden Ungarn.

Christoph Mahnel 
14.04.2025

 
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Das Buch:

Fabian Siegel: Herbergers Kandidaten. Deutschlands Fußballer und ihr Traum vom ersten Nachkriegs-Länderspiel

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Bielefeld: Verlag Die Werkstatt 2025 420 S., € 29,90 ISBN: 978-3-7307-0742-5

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