Medien & Gesellschaft
Literarisches und Graphisches zum Gegenstand
Es gibt Bücher, die liest man einmal. Es gibt Bücher, die liest man zweimal. Und es gibt Bücher, die nimmt man immer wieder mit Freude zur Hand. Zu letzterer Kategorie wird der Leser gerne den "Werkkatalog 1986-2022" der von und über Günter Grass in Zusammenarbeit mit Gerhard Steidl entstandenen Veröffentlichungen zählen.
Der Katalog ist in zwei Hauptteile unterteilt sowie ein ergänzendes Kapitel mit einer Zusammenstellung jener Literatur über Grass und sein Werk, die bei Steidl erschienen ist. Der erste Hauptteil verzeichnet die Werke bis zu "Vonne Endlichkait" 2015 (einschließlich der Essays, Reden, Gespräche und Hörbücher); der zweite Hauptteil präsentiert die nach dem Tod des Schriftstellers, Bildhauers und Graphikers im Steidl Verlag erschienenen Ausgaben (mit dem Schwerpunkt auf die "Neue Göttinger Ausgabe"). Drei Vorbemerkungen informieren über das Büchermachen mit Grass, die Werkstatt des Künstlers und den Aufbau und Inhalt des Katalogs. Namens- und Titelregister sowie ein chronologisches Verzeichnis der Erstausgaben runden das Ganze zu einem ausgezeichneten Nachschlagewerk ab.
Hält man den Werkkatalog erstmals in der Hand und blättert darin, so fallen sogleich zwei Merkmale desselben auf: die außerordentlich sorgfältige und kunstvolle Gestaltung vom Einband bis zum Schriftsatz und der relativ große Raum, den die in bester Qualität gedruckten Abbildungen gegenüber dem Text, der im Wesentlichen aus den bekannten Verlagsankündigungen und Klappentexten besteht, im Buch einnehmen. Dass diese Abbildungen selbst wiederum neben Graphischem auch Grass-Texte enthalten, versteht sich bei der Doppelbegabung des Schriftstellers und bildenden Künstlers von selbst: entnahm dieser doch Anregungen zur Graphik oftmals seine literarischen Werken und entwickelte umgekehrt Bildmotive der Zeichnungen, Radierungen und Lithographien in Lyrik und Epik weiter.
Was die bei Steidl erschienenen Grass'schen Werke und damit auch deren Präsentation im Katalog so bemerkenswert und besonders macht, ist deren Entwurf als Kunstwerke, als ästhetische und zugleich physische Objekte im Zeitalter der Digitalisierung. Damit stehen Grass und Steidl in der guten Tradition zum Beispiel von Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno, die mit Bleisatz und kreativer Buchgestaltung die "Andere Bibliothek" und deren Zauber begründet haben. Ebenso nämlich feiert Steidl das schöne Buch als dreidimensional erfahrbaren Gegenstand in einer Umbruchszeit, die wir seit dem Aufkommen von Heimcomputern in den 1980er Jahren - als Grass' Zusammenarbeit mit Steidl begonnen hat - und schließlich mit der Verbreitung von Internet, Smartphone, Big Data und Cloud als Digitalisierung, als einen verstärkten Einsatz von Digitaltechnologien in unserem Alltag, in der Gesellschaft, Arbeit und Wirtschaft wahrnehmen.
Insbesondere mit den bei Steidl erschienenen großformatigen Text-Graphik-Bänden haben der Schriftsteller und sein Verleger dem Grass'schen Werk eine neue Dimension erschlossen. Der Katalog, der selbst Teil dieser Erschließung ist, dokumentiert und belegt dies eindrucksvoll. Und so bleibt uns an dieser Stelle nur der Wunsch nach vielen weiteren Grass-Büchern vom besten Verlag, den der Nobelpreisträger für die kunstvolle Publikation seiner Werke finden konnte: Neuauflagen und -ausgaben, Bild- und Sammelbände, Dokumentationen, Neuinterpretationen u.v.a.m.
Holger Schwinn
03.04.2023