Medien & Gesellschaft

Die letzten "Notti Magiche"

Der Sommer 1990 dürfte allen jenseits der Vierzig noch ganz fest in die Erinnerung eingebrannt sein. Es waren die Monate, in denen nach dem Mauerfall im November zuvor die Wiedervereinigung festgezurrt wurde und sich Kolonnen von Ost nach West und von West nach Ost bewegten. Darüber hinaus fand mit "Italia 90" eine Fußball-Weltmeisterschaft statt, die gesellschaftlich prägend sein sollte wie 36 Jahre zuvor "Das Wunder von Bern". Deutsche Fußball-Fans aus Ost und West feierten gemeinsam eine furios aufspielende bundesdeutsche Nationalmannschaft um ihren Kapitän Lothar Matthäus, die es mit überwiegend begeisterndem Fußball bis ins Finale nach Rom schaffte und dort Revanche übte an Diego Maradona und seinen Argentiniern für die vier Jahre zuvor erlittene Finalniederlage.

Dietrich Schulze-Marmeling nimmt sich in seinem neuesten Buch "1990: Eine WM, die alles veränderte" diese Weltmeisterschaft als Wendepunkt in der Fußball-Geschichte vor. Sehr gut seziert er das Gesicht des Fußballs, das dieser in den Siebzigern und Achtzigern in den führenden europäischen Fußball-Nationen Deutschland, England und Italien zeigte. Es war bisweilen eine hässliche Fratze, Fußball ein Proletensport, weswegen Frauen und Familien das Stadion besser mieden. Der Hooliganismus erstreckte sich allmählich über den ganzen Kontinent, dazu Klassenkämpfe in England, seinerzeit wagte es kaum ein Intellektueller, sich als Fußball-Fan zu outen. Doch mit der WM in Italien, der letzten ihrer Art, und noch einigen weiteren Ereignissen zu Beginn der Neunziger wandelte sich das Image des Fußballs und der Fußball begann, sich als Wirtschaftsindustrie zu verstehen.

In die gleiche Kerbe schlägt Christoph Biermann, ebenfalls ein bekannter und vielschreibender Fußball-Journalist, in "Um jeden Preis", seinem neuesten Buch über "die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute". Zwar macht er die Zeitenwende weniger an der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 fest als sein Kollege Schulze-Marmeling, doch verortet er diesen Übergang ebenfalls zu Beginn der Neunziger. Sein Auslöser ist vielmehr die Schaffung der englischen Premier League im Jahre 1992, mit deren Gründung sich der Fußball in seinem Mutterland neu erfinden sollte. Fortan erfolgte eine völlig andere Vermarktung des Fußballs, Übertragungsrechte wurden deutlich wirtschaftlicher vergeben und erworben. Die Entwicklung, die der Fußball auf der Insel nehmen sollte, übertrug sich in Windeseile auch auf den Rest des Kontinents.

Das im Werkstatt-Verlag erschienene Buch von Dietrich Schulze-Marmeling besticht neben dessen Analysen über den Fußball vor und nach der WM 1990 vor allem durch die vielen Trigger-Punkte in den Berichten über das Turnier selbst. Wer erinnert sich nicht gerne an die sensationellen Löwen aus Kamerun mit Roger Milla oder an Lothar Matthäus' unwiderstehliche Solo-Läufe gegen Jugoslawien? Selbst nach mehr als drei Jahrzehnten flammt der Ärger über Frank Rijkaard wieder auf, wenn einem vor Augen geführt wird, wie er im Achtelfinale von Mailand Rudi Völler gereizt und bespuckt hat, so dass beide frühzeitig duschen gehen durften. Sicherlich würde man heute Heribert Faßbenders Wortwahl in diesem emotionalen Hexenkessel nicht mehr für gut halten, aber diese und viele weitere Erinnerungen aus magischen Nächten südlich des Brenners bleiben ein Leben lang im Gedächtnis.

Auf derartige Flashbacks greift Christoph Biermann leider nicht zurück, dafür überzeugt er mit vielen erhellenden Erkenntnissen aus verschiedenen Betrachtungswinkeln des Fußballs und dessen Entwicklung. Er durchleuchtet die entstandene Fußball-Industrie, vergleicht den europäischen Fußball mit den nordamerikanischen Profi-Ligen und ihren gänzlich andersartigen Konzepten. Wären Franchises, Spielerverteilungen per Draft-Verfahren oder geschlossene Veranstaltungen ohne Abstiegsregeln in der Bundesliga oder in europäischen Ligen überhaupt denkbar? Biermann widmet dem deutschen Sonderweg des "50+1" viele Gedanken, denn zumindest dieser Riegel wurde hierzulande der Übernahme durch Ölscheichs oder katarische Staatsinstitutionen noch vorgeschoben.

In beiden Büchern kommt gut heraus, dass die Entwicklung des Fußballs Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger einen Turnaround zwingend benötigte, der Fußball diese Kurve hervorragend meisterte, aber in dessen Folge einige Entwicklungen komplett aus dem Ruder liefen. Dass dieser Tage eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar stattfindet, die nur aufgrund mannigfaltiger Korruption in der FIFA dorthin vergeben werden konnte, ist hinlänglich diskutiert und als maximal absurd bewertet worden. Es sind die deutlich sichtbaren Auswüchse, die der Fußball fortan in den Griff bekommen muss. Auch der Fußball wird eine nachhaltige Entwicklung nehmen müssen, um in den Herzen seiner Fans überleben zu können. "Schneller, höher, weiter" taugt bei der bereits eingenommenen Höchstgeschwindigkeit nicht mehr als Motto für die Zukunft.

"1990" und "Um jeden Preis" bilden ein sehr stimmiges Duo, das gerade dieser Tage sehr fundierte Hintergrundinformationen beisteuert, wenn man darüber diskutieren möchte, was früher besser war. Es desillusioniert aber auch so manchen nostalgisch verklärten Blick zurück in Jahrzehnte, in die man sicherlich nicht um jeden Preis zurückkehren möchte. Auf jeden Fall brillieren beide Autoren mit einer enormen Fachkompetenz und einer großen Routine, komplexe Sachzusammenhänge zielorientiert niederzuschreiben und rüberzubringen.

Christoph Mahnel 
28.11.2022

 
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Das Buch:

Dietrich Schulze-Marmeling: 1990. Eine WM, die alles veränderte

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Bielefeld: Verlag Die Werkstatt 2022 208 S., € 22,00 ISBN: 978-3-7307-0627-5

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Christoph Biermann: Um jeden Preis - Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute

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Köln: Kiepenhauer & Witsch 2022 256 S., € 18,00 ISBN: 978-3-462-00373-4

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