Medien & Gesellschaft

Die letzten friedlichen Tage

Der Geist der olympischen Winterspiele hat in den vergangenen Jahren arg unter einer äußerst schäbigen Entwicklung gelitten. Nachdem letztmals im Jahre 2010 im kanadischen Vancouver Winterspiele an einer wintersportfreundlichen Stätte abgehalten worden waren, wurden die drei folgenden Veranstaltungen in Lokalitäten ausgetragen, die rein gar nichts mit Wintersport zu tun haben: Zunächst im russischen Sotschi an der "Rivera des Schwarzen Meeres", dann im südkoreanischen Pyeongchang und schließlich dieser Tage in Chinas Hauptstadt Peking. Viele Freunde der fünf Ringe haben ob dieser rein auf den Kommerz ausgerichteten Vergaben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Glauben an das Fest der Jugend schon lange verloren. Doch sind Olympische Spiele nicht immer noch umgeben von Einzigartigkeit, Magie und der Möglichkeit, sich als Sportler unsterblich zu machen und Eingang in die Geschichtsbücher zu finden?

Wer im Februar 2022 die beiden Olympia-Wochen am Fernseher verfolgen konnte, wird hin und wieder ein Aufflackern dieser Magie vernommen haben. Doch umgab die Spiele von Peking von Anfang an eine niemals ausgeräumte Heuchelei und ein Buckeln des Internationalen Olympischen Komitees vor einem weiteren diktatorischen Regime. Zu präsent waren Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung ganzer Volksstämme im Rucksack einer synthetischen Veranstaltung, die darüber hinaus unter der Corona-Pandemie litt. In einer zuschauerarmen Blase waren die Sportler mehr denn je zu Marionetten einer perfekt choreographierten Inszenierung verkommen. Bleibende "Moments in Time" haben sowohl Sportler als auch Zuschauer nur in Ausnahmefällen erlebt und für sich mitgenommen.

Doch genug des Haderns um die sicherlich vielfältig zu beklagenden Umstände. Für viele Sportler und Sportlerinnen war diese Zusammenkunft in der chinesischen Hauptstadt der Höhepunkt ihres Sportlerlebens und sollte die Ernte jahrelangen harten Trainings bedeuten. Aus dieser Perspektive heraus bilden Olympische Spiele immer noch die allerhöchste Stufe in einer Sportlerkarriere. Die Winterspiele in Peking boten daher wenig überraschend neben erwarteten Favoritensiegen auch heroische Triumphe von Underdogs und den tragischen Fall sicher geglaubter Medaillenkandidaten. Aus deutscher Sicht stellte zweifelsohne das Doppelgold der Rennrodlerin Natalie Geisenberger ein Highlight dar, darf sich die Polizeiobermeisterin mit nunmehr sechs olympischen Goldmedaillen und einer Bronzemedaille die erfolgreichste deutsche Winterolympionikin aller Zeiten nennen.

Besagte Natalie Geisenberger ziert somit auch völlig zu Recht das Cover von "Olympia 2022. Das Tagebuch der Spiele von Peking". Im Göttinger Werkstatt Verlag ist nur wenige Tage nach dem Erlischen der olympischen Flamme dieses präzise und informative Buch erschienen. Mit Ulrich Kühne-Hellmessen als Herausgeber und Detlef Vetten als Autor ist hier bereits seit Jahren ein eingespieltes Chronisten-Duo am Start, das nach sportlichen Großereignissen wie Olympischen Spielen und Fußball-Welt- und Europameisterschaften Bücher für die heimische Bibliothek und die emotionale Ewigkeit produziert. Um die kontinuierliche Erstellung des Buches bereits zur Laufzeit der Spiele zu ermöglichen, ist das vorliegende Tagebuch der Pekinger Spiele in siebzehn zentrale Kapitel verfasst und eingeteilt worden, beginnend mit der Eröffnung an "Tag 1" und endend mit "Tag 17" als Schlusstag. Dazu gesellt sich der gewohnt umfangreiche Statistikteil mit der Auflistung aller Wettbewerbe und der Top-Ten-Athleten zuzüglich weiterer deutscher Sportler und ihrer Platzierungen.

Doch hat dieses Buch aufgrund der aktuellen geopolitischen Entwicklung dieses Mal eine Erweiterung erfahren. Unter der Rubrik "Und sonst?" haben die Macher aktuelle politische Ereignisse in den jeweiligen Tageskapiteln eingeflochten. Dass sich darin noch kein Vermerk zum Ausbruch des Ukrainekrieges findet, ist der schäbigen Abmachung zwischen Chinas Präsident Xi Jinping und Wladimir Putin zu verdanken, die sich darauf verständigten, dass Putin seinen Einfall in der Ukraine erst nach den Olympischen Spielen beginnen möge. Das vorliegende Buch zeichnet also die letzten Tage in Frieden nach, erfreulich kritisch und handwerklich hervorragend gemacht, mit einem großen Wiedererkennungswert gegenüber früheren Tagebüchern, jedoch mit einem Ereignis im Mittelpunkt, das kein Sportsfreund mehr in einer derart irrealen Umgebung erleben möchte.

Christoph Mahnel 
14.03.2022

 
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Das Buch:

Detlef Vetten, Ulrich Kühne-Hellmessen: Olympia 2022. Das Tagebuch der Spiele von Peking

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2022 176 S., € 19,90 ISBN: 978-3-7307-0576-6

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