Medien & Gesellschaft

Damals vor fünfzig Jahren

Kaum eine Spielzeit in der mittlerweile fast sechzigjährigen Geschichte der Fußball-Bundesliga war mit solch vielen Superlativen, im positiven wie im negativen Sinne, gesegnet wie die Spielzeit 1971/72. Gerd Müllers Tor-Rekord mit 40 Treffern in einer einzigen Saison ist bis heute unerreicht, dazu die 101-Tore-Saison seiner Mannschaft, an der sich sogar die Triple-Bayern im letzten Jahr die Zähne ausbissen. Trotz dieser Torlawine war besagte Spielzeit bis zum Schluss hochspannend, erst am allerletzten Spieltag konnten die Bayern den Titel in einem "Finalspiel" gegen den direkten Konkurrenten klarmachen. Dem gegenüber standen allerdings die Nachwehen und sukzessiven Enthüllungen rund um den Bundesliga-Skandal mit etlichen verschobenen Spielen zum Ende der Vorsaison. Nachdem der Offenbacher Präsident Horst-Gregorio Canellas die Bombe im Juni 1971 auf seiner Geburtstagsfeier platzen ließ, kamen im Laufe der Spielzeit 1971/72 peu à peu immer mehr Details ans Licht der Öffentlichkeit. Die Dementis der Betroffenen konnten die Zuschauer trotz der sportlichen Dramatik und hohen Offensivqualität von Bayern, Schalkern und Gladbachern nicht in die Stadien locken, so dass besagte Spielzeit ebenfalls den ewigen Minusrekord in Sachen Zuschauerzahlen für sich reklamieren darf.

Bernd-M. Beyer, Mitgründer des Verlags Die Werkstatt, hat diese spektakuläre Saison für sein neuestes Buchprojekt auserkoren: "71/72. Die Saison der Träumer". Doch ist dieses Buch keine ausschließliche Hommage an eine außergewöhnliche Saison in Form einer schlichten Aneinanderreihung von Spielen und Toren oder Enthüllungen und Lügen aus Bielefeld, Berlin und Gelsenkirchen. Beyer hat diese Spielzeit zeitgeschichtlich eingebettet in eine Bundesrepublik Deutschland, die sich Anfang der Siebziger Jahre ihrer Ausrichtung nicht wirklich bewusst war. Welche Ostpolitik sollte verfolgt werden? Wandel durch Annäherung oder doch lieber Aufrüstung um jeden Preis? Die erste Generation der RAF hielt Deutschland mit ihren Anschlägen, die immer rücksichtsloser und menschenverachtender wurden, in Atem.

Mit Rio Reiser und dessen Band "Ton Steine Scherben" führt Beyer im vorliegenden Werk einen weiteren Protagonisten auf die Bühne, der mit Fußball rein gar nichts am Hut hatte. Rio verschlug es Anfang der Siebziger nach West-Berlin, um dort Inspiration für seine Musik zu erfahren und seine Homosexualität ausleben zu können. Trotz Rios fehlenden Enthusiasmus' für den Fußball macht der Autor eine Seelenverwandtschaft zwischen Rio Reiser und Stan Libuda, dem Schalker Flügelstürmer, aus. Sie sind die beiden Träumer, auf die Beyer im Titel seines Buches verweist. Die Melancholie Libudas verhinderte dessen ganz große Karriere. Auf großartige Spiele, in denen er alleine die gegnerischen Hintermannschaften filetierte, folgten unterirdische Auftritte, bei denen Schalke auch zu zehnt hätte spielen können, ohne dass man einen Unterschied ausgemacht hätte. Beyer zufolge war Libuda ein Träumer ähnlich wie Rio Reiser. Während dieser in seinen Liedern von einer besseren Welt und einer besseren Gesellschaft schwadronierte, wohnte Libuda eine Sehnsucht nach Vertrautheit inne, die ursächlich war für seine ständigen Leistungsspitzen nach oben wie nach unten.

Beyer, bis zu seinem Ruhestand jahrelang als Cheflektor des Werkstatt Verlags tätig, hat in der jüngeren Vergangenheit einige vielbeachtete Fußballbücher auf den Markt gebracht. Neben seinem historischen Roman über Walther Bensemann, den Pionier des deutschen Fußballs und Gründer des "Kicker", gelang ihm vor allem mit seiner Biografie über Helmut Schön, den deutschen Weltmeister-Trainer von 1974, der ganz große Wurf. Platz 1 bei der Wahl zum Fußballbuch des Jahres 2017 war ihm damit beschieden. Das vorliegende Buch hingegen wurde auch durch persönliche Umstände des Autors initiiert. Nach eigenen Aussagen fiel die Saison 1971/72 in die Zeit, in der Beyer als junger Student politisiert wurde. Diese politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland hat der Autor schließlich verknüpft mit einer außergewöhnlichen Bundesliga-Saison.

Im Takt monatlicher Kapitel hangelt sich Beyer nach dem Prolog auf Canellas' Gartenfest von August 1971 bis in den Herbst 1972, wo schließlich München und die olympische Bewegung mit dem Attentat auf die israelischen Sportler ihre schwärzeste Stunde erleben mussten. Das Jahr 1972 kannte demnach zugleich einige der größten Momente im deutschen Fußball wie den ersten Sieg einer Nationalmannschaft auf englischem Boden oder den späteren Triumph bei der Europameisterschaft, aber auch die beschämendste Episode, als der Fußball ob dilettantischer Spielabsprachen seine Unschuld verlor. Der detaillierte Gang durch die Saison 1971/72 überrascht diejenigen Fußballfreunde, die damals noch nicht das entsprechende Alter hatten, vor allem damit, dass es zu jener Zeit eine junge Schalker Mannschaft gab, die das Potential hatte, die Dominanz der Bayern und Fohlen in den Siebzigern zu durchbrechen. Doch waren die Verlockungen auf ein paar schnelle Mark zu groß, um in die Geschichte des deutschen Fußballs einzugehen.

Bernd-M. Beyer ist es gelungen, eine begeisternde wie auch ernüchternde Saison mit allen möglichen Wendungen, Überraschungen und Katastrophen mit der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte der frühen Siebziger Jahre zu verweben und zu einem unterhaltsamen Lesestoff zu verarbeiten, der Fußballfans sämtlicher Altersgruppen in seinen Bann zieht.

Christoph Mahnel 
08.03.2021

 
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Das Buch:

Bernd-M. Beyer: 71/72. Die Saison der Träumer

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2021 352 S., € 22,00 ISBN: 978-3-730-70540-7

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