Medien & Gesellschaft

Abgründig

Am 11. Juli 2020 drohte dem 1. FC Nürnberg der Absturz in die Bedeutungslosigkeit des deutschen Profifußballs. Der fränkische Traditionsverein, der sich bis zur Saison 1985/86 noch deutscher Rekordmeister nennen durfte, sah sich als Drittletzter der abgelaufenen Zweitliga-Saison im Relegationsspiel gegen den aus der Drittklassigkeit nach Höherem strebenden FC Ingolstadt einem niemals für möglich gehaltenen Rückstand ausgesetzt. Es blieben in der Nachspielzeit des Rückspiels nur noch wenige Sekunden und ein allerallerletzter Angriff, um den Abstieg und damit ein womöglich jahrelanges Darben in den Niederungen des deutschen Fußballs abzuwenden. Dieser Angriff verkörperte zunächst die gesamte missratene Saison der Nürnberger in sich, eine Stürmeraktion zum Haareraufen und gleich noch eine unkontrollierte Kerze hinterher. Doch dann streichelte der eingewechselte Fabian Schleusener den Ball mit dem ausgestreckten Bein und seiner Fußsohle ins Tor wie einst die Club-Legende Max Morlock im WM-Finale von Bern.

Der Fußball kennt viele Last-Minute-Dramen, von der Champions League bis in die Kreisklasse. Doch dieses Wunder von Ingolstadt im Zeitalter von Corona hatte eine gewaltige Wirkung auf die Menschen im Umfeld des 1. FC Nürnberg. Einer davon ist Oliver Fritsch, der das Spiel in den Katakomben des Nürnberger Stadions mit vielen Angestellten des Vereins am Fernseher verfolgte. Auch Tage danach ließ ihn das Gesehene und Erlebte nicht los, insbesondere die Gespräche mit Roland Wittner, einem befreundeten Mitstreiter früher Tage im Dress der SG Reiskirchen/Niederwetz, ließen in Fritsch die Idee aufkommen, seine irrlichternde Gefühlswelt in einem Buch zu verarbeiten. Gesagt, getan: "Fußball als Nahtoderfahrung" lautet der gewagte Titel dieses Debütwerks, das dieser Tage beim Fürther Verlag starfruit publications erschienen ist.

Oliver Fritsch, anno 1971 in der mittelhessischen Tristesse geboren, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem vielbeachteten Fußball-Journalisten aufgeschwungen. Seine Berichte und Artikel bei ZEIT Online zeugen nicht nur von hohem Fachwissen, sondern auch von einer speziellen Beobachtungsgabe, mit der er das Spiel seziert und analysiert. Seine Wurzeln hat Fritsch im Amateurfußball, dem er mit seiner Plattform Hartplatzhelden eine virtuelle Heimat gegeben hat und für die er den Gang nach Karlsruhe bis zum dortigen Bundesgerichtshof beschritten hat. Seit einigen Jahren berichtet er nun aus der großen Welt des Profifußballs, dem er allerdings eher kühl und distanziert gegenübersteht. Aus dieser Gratwanderung macht Fritsch im vorliegenden Buch keinen Hehl und gewährt interessante Einblicke in seine Gefühle für den Fußball.

"Fußball als Nahtoderfahrung" wird getragen von den Dialogen zwischen Oliver Fritsch und Roland Wittner. Während Wittner als Nürnberger Bub ein "Glubberer" von Kindesbeinen an ist, wurde Fritsch erst durch seine Ehefrau Katharina, die beim 1. FC Nürnberg die Unternehmenskommunikation leitet, auf Umwegen zum Club-Fan. In ihren Gesprächen verarbeiten die beiden Männer ihre Erlebnisse während des Spiels und in den Tagen danach. Dabei kommen sie an vielen wichtigen Themen eines Fußballfans vorbei: Mit wem schaut man Fußballspiele, die einem wichtig sind, und mit wem definitiv nicht? Welche Fußballspiele waren Meilensteine oder Traumata ihres Lebens? Als Verehrer des fränkischen Aushängeschildes halten Fritsch und Wittner nicht mit ihrer Verachtung gegenüber dem FC Bayern hinter dem Berg, was sie aber dennoch nicht unsympathisch werden lässt, da sich jeder Fußball-Anhänger, egal ob rot, grün-weiß oder schwarz-gelb, in den diskutierten Themen wiedererkennt und man dieselben Sorgen und Nöte, aber auch Glücksgefühle teilt. Letztere scheinen Anhängern des 1. FC Nürnberg deutlich weniger beschieden zu sein als den Fans anderer Vereine.

Unterbrochen werden die Gespräche der beiden Fußball-Weisen durch Einwürfe von Protagonisten des Spiels vom 11. Juli 2020. Natürlich kommt Fabian Schleusener, der das goldene Tor in der 90.+6. Minute erzielte, zu Wort, ebenso der Nürnberger Torwart Christian Mathenia und der eigens für die Relegation inthronisierte Club-Trainer Michael Wiesinger, deren Tränen nach dem Abpfiff sinnbildlich für völlig durcheinander gewirbelte Seelenleben waren. Selbst von Marcel Gaus, dem Ingolstädter Spieler, der eigentlich Schleuseners Tor noch auf der Linie hätte verhindern können, ja müssen, hat Fritsch Einblicke erhalten, so dass hier auch die Ingolstädter Seite berücksichtigt werden konnte. Zur Abrundung wissen noch einige fränkische Ikonen zu berichten, was es bedeutet, Club-Fan zu sein, und Katharina Fritsch, Ehefrau des Autors, spricht für zahlreiche Angestellte des Vereins, deren Job bei diesem Spiel mitunter auf der Kippe stand und für die eine derartige Achterbahnfahrt aus mehreren Aspekten heraus maximal aufwühlend gewesen sein muss.

Es gibt auf dem Markt für Fußballbücher einige Werke, die einzelne Fußballspiele zum Inhalt haben, wie zum Beispiel Christian Eichlers "7:1 - Das Jahrhundertspiel", doch sicherlich noch keines, das sich ausschließlich mit einem Relegationsspiel zur Zweiten Bundesliga beschäftigte. Insofern erscheint der Anlass lokal begrenzt zu sein, doch gelingt es Fritsch mit seinem umfassenden Blick auf den Fußball, aus diesem Spiel Erkenntnisse zu ziehen, die "Fußball als Nahtoderfahrung" auch für Fußballfans anderer Vereine zur Pflichtlektüre machen. Überlegungen, dem Fan-Dasein abzuschwören, hatten garantiert schon viele Anhänger. Im vorliegenden Buch wird klar, dass dies einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Als Fußballfan wird man daher Fritschs Dialoge lieben und sich in den eigentümlichen Verhaltensweisen, die in der Regel am Spieltag spätestens mit dem Anpfiff einsetzen und für die man zeit seines Lebens keine rationalen Erklärungen gefunden hat, wiedererkennen. Insofern darf man dem Fußballgott als Choreograph dieses Relegationsdramas dankbar sein, dass daraufhin dieses psychoanalytische Büchlein das Licht der Welt erblicken durfte.

Christoph Mahnel 
21.12.2020

 
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Das Buch:

Oliver Fritsch: Fußball als Nahtoderfahrung - Das Relegationsspiel zwischen dem FC Ingolstadt und dem 1. FC Nürnberg am 11. Juli 2020

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Fürth: starfruit publications 2020 184 S., € 25,00 ISBN: 978-3-922895-42-8

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