Medien & Gesellschaft

Scharf und treffend analysiert

Bekanntlich liegt im größten Triumph bereits der Keim des Niedergangs. Was viele Völker und Feldherren der Geschichte schmerzlich erfahren mussten, bekommen auch immer wieder erfolgreiche Sportmannschaften zu spüren. Nicht von ungefähr haben bei den letzten fünf Fußball-Weltmeisterschaften viermal die Titelverteidiger beim Folgeturnier bereits in der Vorrunde die Segel streichen müssen. Wenn am Höhepunkt eines jahrelangen Prozesses der ultimative Triumph steht, ist es sicherlich vom menschlichen Aspekt her mehr als verständlich, dass keine Steigerungen mehr möglich sind und Veränderungen erst einmal nicht im Fokus stehen oder als notwendig erachtet werden. Diese Schritte ins Verderben durfte der deutsche Fußball nach der Krönung in Rio anno 2014 in den Folgejahren konsequent durchlaufen, mit dem negativen Höhepunkt beim letztjährigen Welt-Titelturnier in Russland.

Nachdem die Jungs mit dem Adler auf der Brust um die Jahrtausendwende mit dem größten Rumpelfußball aller Zeiten geglänzt hatten, machte man anschließend beim Deutschen Fußball-Bund viele Jahre lang verdammt viel richtig. Über ein Sommermärchen bei der heimischen WM und ununterbrochene Halbfinal-Teilnahmen alle zwei Jahre waren der deutsche Fußball und Jogis Jungs einfach reif für den ganz großen Wurf. Das deutsche Champions-League-Finale 2013 in Wembley mit dem Triumph der Bayern über den BVB sowie der Lauf der Nationalmannschaft ein Jahr später in Brasilien waren das Ergebnis einer Erfolgsgeschichte, die über zehn Jahre hinweg peu à peu aufgebaut worden war. Für Außenstehende ging die Vertreibung vom Olymp viel rascher vonstatten als der Weg hinauf zum Gipfelkreuz, doch waren bei genauem Hinsehen erste Anzeichen bereits dort erkennbar. Wäre es allerdings angemessen gewesen, mahnend den Finger zu heben, anstatt sich mit dem vierten Stern am Revers in der Welle des Erfolgs zu suhlen?

Mit Dietrich Schulze-Marmeling hat sich ein anerkannter Fachmann der diffizilen Situation angenommen und die aktuellen Missstände des deutschen Fußballs gründlich analysiert. Schon im vergangenen Sommer hat der mehrfach preisgekrönte Autor blitzschnell das Özil-Dilemma aufgegriffen und seine feinen Beobachtungen nur wenige Woche nach dem WM-Vorrundenaus in Buchform herausgebracht. Während sich viele besserwissende Dampfplauderer und selbsternannte Hobby-Bundestrainer hierbei mit Stammtischparolen und Aussagen fürs Phrasenschwein ins Abseits manövriert haben, hat Schulze-Marmeling zum wiederholten Male bewiesen, weshalb seine Bücher von Fußball-Experten so sehr geschätzt werden. Mit Spannung durfte man daher seine Analysen zur gegenwärtigen Situation des deutschen Fußballs erwarten. Bereits der Titel "Ausgespielt?" zeigt mit dem Fragezeichen an, dass hier eine ergebnisoffene Beschäftigung mit diesem Thema stattgefunden hat.

In den ersten Kapiteln liefert Schulze-Marmeling einen fundierten Abriss der Entwicklung des deutschen Fußballs in den letzten Jahren ab. Dabei relativiert er Höhenflüge wie das 7:1 im 14er-Halbfinale gegen den brasilianischen Gastgeber, das schließlich auch eine Verkettung glücklicher Umstände war und einen Tag früher oder später vielleicht nur 2:0 oder 3:2 ausgegangen wäre. Der Autor nimmt sich die Übergangs-EM 2016 in Frankreich ausführlich zur Brust. In dem in weiten Teilen der Bevölkerung als unglücklich wahrgenommenen Aus gegen Frankreich erkennt Schulze-Marmeling erste Anzeichen für das ungleich größere Debakel zwei Jahre später in Russland. Die erste Hälfte des vorliegenden Buchs rekapituliert die für die Analyse der Gesamtsituation relevanten Geschehnisse, bevor es in der zweiten Halbzeit schließlich "in medias res" geht und das Übel an der Wurzel gepackt wird.

Die Nachwuchsleistungszentren waren bis zum Titelgewinn vor viereinhalb Jahren stets als einer der herausragenden Gründe für den Erfolg des deutschen Fußballs genannt worden, was sich auch heute aus Schulze-Marmelings Sicht nicht grundlegend geändert hat. Doch hat man es versäumt, Adjustierungen vorzunehmen, etwa die Individualität junger Kicker der ewigen Gleichmacherei in der Ausbildung geopfert zu haben. Der Autor hat über die Landesgrenzen geschaut und liefert interessante Einblicke in Konzepte anderer Länder wie Frankreich und Belgien. Seine Kritik richtet er insbesondere auf das gnadenlose Raster des deutschen Nachwuchsfußballs, in dem viele Talente aufgrund inhomogener Entwicklungen ausgesiebt werden. Ein Dorn im Auge ist ihm aber vor allem die Abkehr von den spielerischen Elementen, was ihn auf einer Linie mit Mehmet Scholl sein lässt, der vor geraumer Zeit sehr einprägsam anprangerte, dass deutsche Nachwuchsspieler "18 Systeme rückwärts laufen und furzen" könnten, sich "aber nicht mehr im Dribbling ausprobieren dürften".

Dietrich Schulze-Marmelings "Ausgespielt? Die Krise des deutschen Fußballs" ist eine - wie nicht anders zu erwarten - umfassende Analyse der gegenwärtigen Situation im deutschen Fußball, die die Entwicklung sowohl der deutschen Nationalmannschaft als auch der Bundesliga im europäischen Vergleich im Fokus hat und sich mit der Benennung von Ross und Reiter nicht zurückhält. Auch bringt Schulze-Marmeling konkrete Maßnahmen und Verbesserungsvorschläge zu Papier. Wer am Stammtisch oder in der Kantine klug mitreden möchte über des Deutschen liebstes Kind, der kommt am vorliegenden Buch einfach nicht vorbei. Wie der herausgebende Werkstatt-Verlag bekannt gegeben hat, ist auch schon das nächste Werk des vielbeschäftigten Autors in der Mache und wird im Frühjahr seinen Weg in die Bücherregale finden: In "Reds" beschäftigt sich Schulze-Marmeling dann mit dem FC Liverpool und damit mit einem Klub, für den es aktuell deutlich besser läuft als für Jogis Jungs.

Christoph Mahnel 
04.03.2019

 
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Das Buch:

Dietrich Schulze-Marmeling: Ausgespielt? Die Krise des deutschen Fußballs

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2019 224 S., € 16,90 ISBN: 978-3-7307-0449-3

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