Medien & Gesellschaft

Zwei französische Familiendramen

An Allerheiligen 1977 verlieren sich auf immer die Spuren von Agnès Le Roux, 29, einer schwerreichen französischen Erbin aus Nizza. Ihr Lover ist der neun Jahre ältere Anwalt Maurice Agnelet, ein Familienvater, der sich dank seiner Affäre mit der wohlhabenden Agnès zu diesem Zeitpunkt bereits eine goldene Nase verdient hat. Clever hatte er sie überredet, ihre Anteile am Casino-Imperium der Familie an einen zwielichtigen Gesellschafter zu veräußern. Das Geld hat Maurice inzwischen weiter transferiert auf Konten, auf die auch er Zugriff hat. Fortan scheint ihm Agnès immer lästiger zu werden. Die psychisch labile und von Maurice zurückgewiesene Millionärin versucht daraufhin zweimal erfolglos, sich das Leben zu nehmen. Ende Oktober 1977 wird sie schließlich zum letzten Mal lebend gesehen, eine Leiche wird allerdings nie gefunden. Sofort richten sich die Ermittlungen auf ihren Liebhaber, der jedoch sowohl von seiner Ehefrau als auch von seiner neuen Geliebten entlastet wird.

Guillaume Agnelet ist der mittlere der drei Söhne von Maurice Agnelet und noch ein Junge, als sein Vater in den Sog der Untersuchungen gelangt. Nachdem sein älterer Bruder an Aids gestorben war, rückte Guillaume in die Rolle des großen Sohns. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten half er seinem Vater dabei, sich gegen immer neuerliche Anklagen und Versuche von Agnès´ Mutter, Maurice hinter Gitter zu bringen, zu verteidigen. Mit Besessenheit studierte er Verteidigungsszenarien zusammen mit seinem Vater ein, bis dieser ihm irgendwann gestand, dass er ja nichts zu befürchten habe, solange die Leiche nicht gefunden werde. Doch auch nach dieser eindeutigen und einem Geständnis gleichkommenden Aussage wird es noch Jahre dauern, bis Guillaume den Mut aufbringen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen wird.

Das Verschwinden von Agnès Le Roux war bis zu jenem spektakulären Prozess 2014 in Rennes, in dem Maurice Agnelet des Mordes an ihr schuldig gesprochen und zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird, einer der größten ungelösten Kriminalfälle Frankreichs. Mit der unglaublichen Wendung erfährt der Fall nicht nur mit siebenunddreißig Jahren Verspätung endlich eine Auflösung, sondern mutiert auch zu einem Familiendrama sondergleichen. Obgleich der Patriarch Maurice Agnelet sowohl seine Frau als auch die Söhne tyrannisiert und vereinnahmt hat, begeben sich die Ehefrau sowie der jüngste Sohn auch im Moment von Guillaumes couragiertem Gang an die Öffentlichkeit trotz besseren Wissens nicht auf dessen Seite, sondern beharren auf ihrem Schweigen gegenüber dem Mann, der ihnen das Leben zur Hölle gemacht hat.

Die Journalistin und Gerichtsreporterin Pascale Robert-Diard hat diesen Fall jahrelang begleitet. Nach dem "Grande Finale" hat sie ausgiebig mit Guillaume Agnelet gesprochen und ihren Bericht über diese ungewöhnliche Familiengeschichte in dem vorliegenden Buch mit dem Titel "Verrat" kurz und bündig niedergeschrieben. Gerade einmal 160 Seiten füllt dieser fesselnde Tatsachenbericht in der deutschen Ausgabe, die beim Wiener Zsolnay Verlag erschienen ist. Man merkt der Autorin sehr schnell an, dass sie als Gerichtsreporterin die präzise und klare Beschreibung präferiert, währenddessen ein fabulierender Belletrist aus dieser Geschichte womöglich einen dicken Wälzer produziert hätte. Pascale Robert-Diard fokussiert sich auf Guillaume als die zentrale Person ihrer Schilderungen, dagegen werden der eigentliche Mordfall und die Polizeiarbeit nur am Rande berührt.

"Verrat" ist ein kleines und sehr feines Juwel, das sich problemlos an einem Tag konsumieren lässt. Es besticht natürlich zuvorderst durch die Unglaublichkeit der ganzen Geschichte mit einem Mord, der nicht aufgeklärt werden kann, bis der Sohn des mutmaßlichen Täters nach Jahren seelischen Leids allen Mut zusammennimmt und die Wahrheit ans Licht bringt. Darüber hinaus ist es der Schreibstil der Autorin, der dieses Buch unvergesslich werden lässt. Wie eine Chirurgin filetiert sie die Familientragödie und Guillaumes Umkehrprozess vom größten Verteidiger bis zum Ankläger und Scharfrichter seines Vaters. Das Cover des Buches ziert das Konterfei von Maurice Agnelet aus dem Jahre 1978. Es zieht den Leser nach dem Studium des vorliegenden Buchs magisch in den Bann, weil man gerne in Maurice Agnelets Gesicht lesen möchte, was dieser weiß und was ihn umtrieben hat. Dank Guillaume Agnelet hat es die Welt mit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten Verspätung dann glücklicherweise doch noch erfahren.

Christoph Mahnel
21.08.2017

 
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Das Buch:

Pascale Robert-Diard: Verrat - Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger

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Wien: Paul Zsolnay Verlag 2017
160 S., € 18,00
ISBN: 978-3-552-05857-6

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