Biographie
"Bruder Josef" in den Schuhen des Fischers
"Ich bin Josef, euer Bruder!" - Mit diesen einfachen, aber ansprechenden Worten in Anlehnung an eine Textstelle aus dem Alten Testament wandte sich der neue Papst Johannes XXIII. auf seiner Kr?nungsfeier am 4.11.1958 an die Katholiken und Christen in aller Welt. Aus dieser kurzen Botschaft kann man viel ?ber den Charakter des aus einer armen Bauernfamilie bei Bergamo stammenden Angelo Guiseppe Roncalli (1881-1963) ablesen - er sollte in seinem nur knapp f?nfj?hrigen Pontifikat als Petrus-Nachfolger markante Spuren hinterlassen und das Bild der katholischen Kirche bis heute nachhaltig pr?gen. Nicht nur ?u?erlich war der kleine, dicke Kardinal aus Venedig das v?llige Gegenbild zum asketischen Vorg?nger Pius XII.
Mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod bleibt das positive Wirken und die Menschlichkeit des "Papa buono", des "guten Papstes", vielen Menschen im Ged?chtnis ? ganz gleich, ob Christen oder Nichtchristen. Mit seinem Namen ist auch untrennbar das Zweite Vatikanische Konzil verbunden, das durch die spontane Initiative Johannes XXIII. erdacht und gegen starken Widerstand einiger Kurienkardin?le 1962 einberufen wurde. Dieses Konzil sollte wenige Jahre sp?ter unter Johannes Nachfolger ? Paul VI. ? erfolgreich beendet werden und viele Verkrustungen in der katholischen Kirche aufl?sen sowie Leitlinien f?r eine moderne Kirche des 21. Jahrhunderts setzen.
Der Autor der vorliegenden Biographie, der in deutscher Sprache ver?ffentlichende belgische Schriftsteller und Journalist Freddy Derwahl, beschreibt einf?hlsam und nachvollziehbar die Entwicklung Angelo Roncallis, der sich fr?h und durch den charismatischen Dorfpfarrer beeinflu?t zum Priestertum berufen sah, dann Theologie studierte und zeit seines Lebens immer davon tr?umte, nichts weiter als ein einfacher Landpfarrer in seiner norditalienischen Heimat zu sein. Es kam alles ganz anders: Schon als Sekret?r des Bischofs von Bergamo entwickelte er ausgehend von der Sozialenzyklika "Rerum Novarum" Papst Leos XIII. eine besondere N?he zum einfachen, arbeitenden Volk und versuchte, der Abgehobenheit und Entr?cktheit der Amtskirche durch sein pers?nliches Auftreten und Engagement vor Ort entgegenzuwirken.
Diese Maxime setzte Angelo Roncalli sp?ter auch als Diplomat des Vatikans in Bulgarien, der T?rkei und als p?pstlicher Nuntius in Frankreich um - so scheute er sich trotz seiner beleibten Figur nicht, auf dem R?cken eines Maultiers selbst in die entlegensten bulgarischen Bergd?rfer zu reiten, um sich um die verarmten und vernachl?ssigten Bergbauern zu k?mmern und mit ihnen die Heilige Messe zu feiern. Selbst als Papst vers?umte er es nicht, zu Fu? spontan r?mische Krankenh?user, Kinderheime oder gar ein Gef?ngnis zu besuchen, um Trost und Zuversicht zu schenken ? scherzhaft belegten ihn Journalisten wegen seiner ausgedehnten Spazierg?nge mit dem Spitznamen ?Johnny Walker?.
Der Autor belegt und dokumentiert faszinierende Lebensabschnitte des bescheidenen Papstes. Als Bischof sch?tzte Angelo Roncalli in Istanbul j?dische Emigrantenz?ge durch z?he und gef?hrliche Verhandlungen mit dem deutschen Botschafter vor dem Zugriff der SS und organisierte die Ausreise nach Israel - eine Selbstverst?ndlichkeit f?r den sp?teren Papst als Christenmensch. Seine Zeit in Osteuropa und der T?rkei hat, so Freddy Derwahl, Johannes XXIII. auch bei seinem Streben nach Ann?herung an die Ostkirche und Fortschritten in der ?kumene entscheidend beeinflu?t.
Papst Johannes XXIII. war eigentlich ein Pazifist: der Autor vergi?t nicht, die wichtige Rolle des Papstes in der sich zuspitzenden Kuba-Krise 1962 zu beschreiben, als die USA und die Sowjetunion kurz vor dem nuklearen Krieg standen und Johannes XXIII. als entschiedener Mahner zum Frieden auftrat. Auf dem H?hepunkt der Krise wandte er sich per Rundfunkansprache direkt an Kennedy und Chruschtschow. Seine eigenen Erfahrungen als Sanit?ter im Ersten Weltkrieg pr?gten den Papst ein Leben lang und der Friedenswille war f?r ihn eine wichtige Verpflichtung seines Pontifikats.
Freddy Derwahl verschweigt aber auch nicht die Konfliktpotentiale, die dem reformwilligen Papst - den seine konservativen Gegner in der r?mischen Kurie wegen seines hohen Alters nur als tatenlose ?bergangsl?sung betrachteten ? begegneten und entgegenschlugen. Doch der Menschenfreund Johannes ?berzeugte selbst Kritiker und Gegner und konnte viele durch sein Charisma f?r sich gewinnen und einnehmen. Der Biograph zeigt den schwierigen Start des Konzils auf und verdeutlicht nachvollziehbar die Stimmungen und die Resonanz nach au?en.
Das Buch ist eine mit Tiefgang geschriebene, gut und fl?ssig lesbare Biographie, die den Humor, die tiefe Religiosit?t sowie den dem?tigen Menschen Johannes XXIII. in Selbstzeugnissen, Aussagen von Zeitgenossen und Schilderungen zeigt und seinen Lebensweg lebendig veranschaulicht. Zum 125. Geburtstag des ?Menschenfischers? als Taschenbuch herausgeben, ist diese Biographie nicht nur f?r den an Religionsgeschichte interessierten Leser ein erfreuliches Geschenk.
Hagen Stoll
03.11.2006