Biographie
Vom Hoffnungsträger und Reformer zum Sündenbock
Als am 11. M?rz 1985 vor den Augen der Welt?ffentlichkeit das Politb?ro der kommunistischen Partei der UdSSR (KPdSU) ihren neuen Generalsekret?r vorstellte, rechnete man nach den wenig positiven Erfahrungen mit den greisen Kurzzeit-Vorg?ngern Andropow und Tschernenko wieder damit, dass ein alter und unbeweglicher Polit-Apparatschik die Weltmacht Sowjetunion f?hren w?rde. Doch es kam alles ganz anders: mit seinen damals gerade mal 54 Jahren wurde Michail Sergejewitsch Gorbatschow der zweitj?ngste kommunistische Parteichef aller Zeiten und damit faktisch Staatsf?hrer. Als Vertreter einer j?ngeren Generation sollte es ihm nun vorbehalten sein, das Land und damit die Welt aus der Pattsituation des kalten Krieges und gegenseitigen Aufr?stungswettl?ufen in eine stabilere Zukunft zu f?hren. Hatte schon sein Vorg?nger und politischer Mentor Jurij Andropow wenigstens winzige Reformans?tze des verkrusteten und b?rokratischen Staatsapparats gezeigt, so ging Michael Gorbatschow nun seinen ganz eigenen Weg ? Leitmotive seiner Regierungszeit waren die vielzitierte "Perestroika" (Umstrukturierung) und "Glasnost" (Offenheit).
?berwinder der ?Zeit ohne Uhren??
Gorbatschows Lebenslauf bildet alle Zeitr?ume der Entwicklungstufen der Sowjetunion ab: er reicht von der Kindheit als einfacher Traktoristensohn in der kaukasischen Provinz unter der unheilvollen S?uberungswelle des Diktators Josef Stalin ?ber den flei?igen Jura-Studenten an der Moskauer Lomonossow-Universit?t zu Zeiten der Abrechnung Chruschtschows mit dem "St?hlernen" bis zum regionalen Parteichef in Stawropol und schlie?lich der Mitgliedschaft im Politb?ro in der Endphase der Regierung Leonid Breschnews. Klaus-R?diger Mai, der Autor der hier vorliegenden Gorbatschow-Biographie, spricht in dem Buch ?ber die Breschnew-Regierungszeit als der "Zeit ohne Uhren" ? einer von Stagnation bestimmten, nicht vorw?rtsgerichteten Zeitphase, in der keinerlei innere und ?u?ere Reformbereitschaft auch nur im Ansatz zu erkennen gewesen w?re und die von schlimmer Korruption und Vetternwirtschaft gepr?gt war. Das war eine Tatsache, der sich Gorbatschow sehr wohl bewusst und die dem prinzipientreuen Parteisoldaten stets ein Dorn im Auge war. Gorbatschows Aufstieg innerhalb dieses degenerierten Systems gelang nur, weil sich in seiner Person ? wie der Autor ?berzeugend beschreibt ? ein gesundes Karriere- und Pflichtbewusstsein, Intelligenz, soziales Engagement, ?berzeugungskraft und Charisma vereinigten.
Als Leser des vorliegenden Buches stellt man sich nun die Frage: War Gorbatschow der ?berwinder dieser "Zeit ohne Uhren"? Was ist ihm letztendlich mit seiner Entspannungspolitik gelungen und haben seine Reformen wirklich eine Demokratisierung und wirtschaftlichen Fortschritt im Inland gebracht? Der Schwerpunkt der Biographie Mais liegt auf dem Entwicklungsweg Gorbatschows an die Schalthebel der Macht als oberster Sowjetfunktion?r und dem Einflu? der verschiedenen Auspr?gungen kommunistischer Exekutivpolitik, die vom inl?ndischen Terror und den Repressionen Stalins bis hin zum "Kalten Krieg" unter Breschnew reichen und sich auf das politische Denken und Handeln des aufstrebenden Politikers auswirken.
Die Auswirkungen des Stalinismus und die Vorbildfunktion Stalins f?r den jungen Gorbatschow sind wichtige Fragen in der vorliegenden Biographie. Als ?berzeugter Kommunist wurde der junge Gorbatschow von seinem politisch aktiven Gro?vater, dem ?rtlichen Kolchose-Chef, an den Marxismus und Leninismus herangef?hrt ? und das, obwohl beide Gro?v?ter von der hysterischen und nicht vor unschuldigen Opfern haltmachenden S?uberungswelle Stalins in den drei?iger Jahren betroffen waren und kurzzeitig in Haft gerieten. Gorbatschow war kein fanatischer Anh?nger, sondern im Gegensatz zu vielen aktiven Parteigenossen reflektierte er als ?u?erst wissbegieriger Mann ?ber die kommunistische Theorie und wollte durch Argumente in der Diskussion ?berzeugen, nicht durch das blo?e Agitieren und Polemisieren ? eine Eigenschaft, die ihm laut Autor in seinem Aufstieg zur Macht und in der politischen F?hrung seines Landes zugute kam. Aus einfacher Familie stammend ist er mit den Problemen der armen kaukasischen Landbev?lkerung vertraut, was laut Autor auch sein soziales Gewissen und Verantwortungsgef?hl gegen?ber dem Volk gesch?rft hat und bereits in Gorbatschows politischen Anf?ngen in der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol zu sehen war. Der Autor hebt auch die Rolle der vor ein paar Jahren verstorbenen und von Gorbatschow tief betrauerten Ehefrau Raissa hervor, die ? selbst studierte Philosophin und Hochschuldozentin - von ihrem Mann auch als kompetente Gespr?chspartnerin und Ratgeberin in Partei- und Staatsangelegenheiten betrachtet und konsultiert wurde.
Russlands heutige Probleme und ihre Ursachen
Klaus-R?diger Mai beschreibt in seinem Buch die derzeitige politische Lage im Russland Wladimir Putins, der formal ein demokratisch gew?hlter Pr?sident ist, aber autokratisch ?ber Justiz und Parlament hinweg regiert. Bestimmte undemokratische und mafi?se Strukturen im System sind aber nach wie vor allgegenw?rtig im heutigen Russland und sie haben laut Klaus-R?diger Mai ihre Wurzeln in der undurchschaubaren und ?ber Jahrzehnte immer weiter gewachsenen B?rokratie des sozialistischen Zentralstaates. So versuchte Gorbatschow, diese Verkrustung aufzubrechen, aber seine Vorstellung von einem demokratischen und transparenten sozialistischen Staat mit verst?rkter regionaler Verantwortung musste scheitern. Machtlos musste er mit ansehen, wie der f?derale Sowjetstaat sich Anfang der neunziger Jahre nach und nach in unabh?ngige und mal mehr oder weniger demokratische Einzelstaaten aufl?ste.
Die au?enpolitischen Erfolge Gorbatschows und die Vorg?nge um die deutsche Wiedervereinigung und da insbesondere die Rolle Gorbatschows im Einwirken auf den starrsinnigen SED-Chef Erich Honecker werden nicht ausgelassen, sind aber nicht das zentrale Thema dieses Buches ? sie werden auch in anderen Biographien oder publizistischen Werken zum Thema ausreichend behandelt. Der Leser stellt sich aber dabei nat?rlich die Frage, was im Osten Deutschlands passiert w?re, wenn ein Apparatschik der alten Betonkopf-Garde die Entscheidungsgewalt gehabt und m?glicherweise den Befehl zum Eingreifen der sowjetischen Truppen gegeben h?tte. Die traurigen historischen Ereignisse im "Prager Fr?hling" lassen da als Vergleich nichts Gutes ahnen. F?r Gorbatschow galt aber im Hinblick auf die DDR und die Demokratiebewegungen in den anderen osteurop?ischen Satellitenstaaten das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der V?lker, welches, wie Klaus-R?diger Mai aufzeigt, nat?rlich einen eklatanten Richtungswechsel der au?enpolitischen Direktive darstellte.
Macht- und Ansehensverlust ? aber nur in Russland
Nichts dergleichen ist passiert: die in unvereinbare ideologische Bl?cke aufgeteilte Welt existiert heute nicht mehr. Das Ansehen des Friedensnobelpreistr?gers Michail Gorbatschows ist heute im Ausland hoch, aber in seiner Heimat wird ihm weiter unverhohlen vorgeworfen, den Zusammenbruch der Sowjetunion und damit wirtschaftliches Ungleichgewicht verursacht zu haben. Detailliert schildert sein Biograph, wie der 1991 gescheiterte Putschversuch einiger Minister Gorbatschows aus Angst vor dem Zerfall der zentralistischen Ordnung die Machtbasis zugunsten des russischen Ministerpr?sidenten und F?deralismusbef?rworters Boris Jelzin verschob. Eine Kandidatur Gorbatschows als russischer Staatspr?sident und damit die R?ckkehr auf die politische B?hne scheiterte Ende der neunziger Jahre mit einem sozialdemokratischen Parteiprogramm kl?glich.
Sehr deutlich hebt Klaus-R?diger Mai aber auch die von Gorbatschow initiierte Aufarbeitung historischer Fakten innerhalb des "Glasnost"-Programms hervor: so gestand die sowjetische F?hrung erstmals die Schuld an dem Massaker an polnischen Soldaten in Katyn beim sowjetischen ?bergriff 1939 voll und ganz ein.
Dieses Buch ist zum einen eine interessante und lehrreiche Einf?hrung in die Geschichte der UdSSR seit dem Stalinismus und ihrer f?hrenden Entscheidungstr?ger, ihrer inneren Machtk?mpfe und Grabenk?mpfe, ihrer politischen und eklatanten Widerspr?che zur Interpretation des Leninismus, wie ihn Michail Gorbatschow verstand. Dem Historiker und Journalisten Klaus-R?diger Mai gelingt es, in einem fl?ssigen und illustrativen Schreibstil ein pers?nliches und bildhaftes Lebensbild eines der wichtigsten Repr?sentanten, der innerhalb dieses Systems gro?geworden ist, zu entwerfen. Letztlich ist Michail Gorbatschow mit seiner Vorstellung von einer nicht zentralistischen sozialistischen Gesellschaft mit demokratischen Z?gen ? dem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" - dann doch an der Realit?t und der Unkontrollierbarkeit des sowjetischen Staats-Molochs gescheitert.
Hagen Stoll
06.04.2006