Biographie
Schiller als Vorreiter der literarischen Moderne
Norbert Oellers, geboren 1936 und seit 1991 alleiniger Herausgeber der Schiller-Nationalausgabe, hat eine – gegenüber vergleichbaren Reminiszenzen zum 200. Todestag des Dichters – erstaunlich sachliche Biographie vorgelegt. Ohne Pathetik kommt sie aus, auch ohne die so oft beschworene Herleitung des Bewusstseins aus dem kranken Sein – lediglich am Ende des konzisen Kapitels zu Schillers Leben wird die Obduktionsakte, die allerdings für sich spricht, geöffnet.
Oellers Biographie ist in erster Linie eine Werkbiographie, die sich ernsthaft der Dramen, Erzählungen, Gedichte sowie geschichts-philosophischen Schriften des Workaholics Schillers annimmt, was vor allem heißt, die Schwachstellen nicht auszublenden. Nicht selten mischt sich hier ein guter Schuss Ironie in Oellers' Analysen – in Bezug auf "Kabale und Liebe" heißt es: "Der Schluss der Tragödie ist so einfach wie vorhersehbar, aber Schiller dehnt ihn noch durch zwei Akte hindurch aus, um seinem Publikum mancherlei Dramatisches vorzuspielen und ihm einige Wahrheiten zu sagen."
Oellers hat sich zum erklärten Ziel gesetzt, zum heute noch "brauchbaren" Gehalt vorzugsweise der Schillerschen Dramen vorzudringen. Er entwirrt verwickelte Handlungsstränge, deckt fehlende Zusammenhänge auf, schwache Motivationen, um den Leser – im Zusammenhang der "Räuber" – vor die verblüffende Tatsache zu stellen: "Was sich kritisieren lässt, trifft nicht, was Schiller wichtig war." Die Aufmerksamkeit des Zuschauers Schillerscher Dramen soll sich auf das "Wie", nicht auf das "Was" (die Handlung) richten, auf die "hochfahrende poetische Sprache", in der sich die Philosophie des Autors widerspiegelt: Auf der einen Seite die Geworfenheit in eine grausame Welt, in die Notwendigkeit der Geschichte, die (selbst das große) Individuum in ihrem Räderwerk zermalmt, auf der anderen Seite die Aufgabe der Kunst, einen Aufschein des Idealen zu geben, eine (zumindest momentane) Erhebung über die Widrigkeiten des Lebens. Wie dies in den einzelnen Dramen angelegt ist, kristallisiert Oellers überzeugend heraus. Im Fall von "Wallenstein" zieht er Rezeptionsdokumente heran, die die zeitgenössische Aufnahme des "dramatischen Gedichtes" eindrucksvoll belegen: Während Hegel in dieser Tragödie die Sinnlosigkeit der Geschichte dargestellt fand (was ihm als Philosophen, der der Geschichte noch einen Sinn abzutrotzen suchte, verdächtig erscheinen musste), erkannte Humboldt die Aufgabe der Poesie an, die ihr eigene Wahrheit und Schönheit zu verströmen.
Was nimmt es Wunder, dass Oellers sich oftmals gegen die geläufige Rezeption, sei es literaturwissenschaftliche Deutung oder Aufführungspraxis an deutschen Theatern, wendet, und in Bezug auf "Die Jungfrau von Orleans" eine "lange Reihe von Missdeutungen, Missverständnissen und willkürlichen Eingriffen" konstatiert. Indem er den tieferen, mithin zutiefst modernen Kern des Stückes herausarbeitet – die Grausamkeit, die Kontingenz der Historie –, gibt Oellers, und dies ist sicherlich auch die hoffnungsvolle Absicht seiner Biographie, Anregung für eine neue Auseinandersetzung mit Schiller.
Im letzten Kapitel, in dem sich Oellers den philosophischen Abhandlungen Schillers widmet, stuft er "Über naive und sentimentalische Dichtung" als Beitrag zur modernen Literaturtheorie ein, der noch viele Ansätze zum Weiterdenken bietet. Und en passant stellt Oellers sich und seine gleichzeitig zerpflückende wie bewahrende Methode, das Schillersche Œuvre in seiner Einzigartigkeit begreifbar zu machen, in eine Reihe mit all jenen "Interpreten und Beurteiler(n), die [...] vor den Schwächen des Werks nicht die Augen verschließen, aber seinen dauerhaften Rang und Wert nicht bestreiten."
Nicole Stöcker
03.10.2005