Biographie
Rezeptionsgeschichte ist eine spannende Sache
Ein Mosaik, locker hingeworfen und gerade dadurch lebendig und echt.
Keine Biographie, keine akademische Bestandsaufnahme letzter Seufzer,
sondern ein buntes, manchmal fahles, übelriechendes Leporello, das
desto mehr interessiert, je mehr man blättert. Dabei ist es ein
Verdienst, wie frei der Autor seine Darstellungskunst entfaltet, es
fließen hübsche Sarkasmen ein, lyrische Ergüsse, die den Leser
konzentrieren. Dabei bleibt der Protagonist lebensnah, transparent,
seine aufregende, manchmal anstrengende Exzentrik wird verstehbar.
Jens Rosteck erweist sich auch als Meister der Literatur- und
Kulturgeschichte des fin de siecle. Es gelingt die Aufhellung feiner
Verbindungslinien und Verästelungen in den persönlichen Beziehungen der
damaligen Salonkultur. Damit greift der Autor ein Beziehungsgeflecht
auf, das wirkmächtig war, das dennoch wenige Spuren hinterlassen hat
und das wegen seiner geringen Faßbarkeit die Arbeit des
Kulturhistorikers sauer werden läßt.
Das vorliegende Buch hat manches über das eigentliche Thema
hinausreichende Verdienst. Es würdigt zum Beispiel die jahrelange
Arbeit des Wilde-Freundes Robert Ross für die Regelung der Tantiemen
zugunsten der minderjährigen Wilde-Söhne, die diese Leistungen erst
sehr spät begreifen sollten.
Das Buch hat eine dem Thema angemessene Sprachweise gefunden, die wohl
nur einem Grenzgänger zwischen zwei Künsten, der Musik und dem Theater
und Kabarett, einem Meister der Inhaltevermittlung zufallen kann.
Ein Philister, wer da noch über das Versehen räsonnieren wollte, daß
der Autor nach veralteten deutschen Wilde-Ausgaben zitierte und nicht
nach der derzeit maßgeblichen Norbert Kohls. Oder daß der überaus kluge
und kultivierte Verfasser das dritte Jahrtausend am 1. Januar 2000
beginnen läßt wie so mancher an die Existenz eines Jahres Null
glaubende Zeitgenosse. Es wäre indess tumbe Erbsenzählerei, diese
Marginalien einem Buch von wirklicher Schöpfungskraft ernstlich
anlasten zu wollen; sie sind freilich die willkommene Ausflucht des
glücklichen Rezensenten, sein höchstes Lob durch den Nachweis der
Kritikfähigkeit nochmals zu erhöhen.
Zuletzt gibt der Autor eine gelungene Skizze zu den literarischen,
filmischen und anderen Inkulturationen des 20. Jahrhunderts zu Wildes
Leben und Werk. Die Strahlkraft der Dichterpersönlichkeit leuchtet auf
in den späteren Vereinnahmungen Genets, Fassbinders, Hervé Guiberts und
anderer. Werkimmanente Interpretationen und biographische verschmelzen
endgültig miteinander. Wilde wird zur Projektionsfläche der sich
befreienden gay community. Dabei hat Wilde der Gefahr, seine
Hinterlassenschaft würde eines Tages einem Schubladendenken zum Opfer
fallen, durch die Vielfalt und Qualität seiner Schriften vorgebeugt.
Rezeptionsgeschichte ist eine spannende Sache, wenn man ihre
Darstellung beherrscht. Im vorliegenden Buch tritt der Autor
darüberhinaus den Beweis dafür an, daß ein Rezeptionshistoriker
mitnichten Fachmann im engeren Sinn sein müsse, hier also Anglist oder
Kultursoziologe. Das Buch ist ein gelungener Beitrag zur Biographie
Wildes, zu seiner Wirkungsgeschichte und zur Geistesgeschichte des auf
Wilde folgenden Jahrhunderts.
Markus Hänsel-Hohenhausen
05.01.2002
Nachbemerkung: Für die Geschichte der unmittelbaren Wilde-Rezeption mag
das absurde Spektakel um Wildes Grabplastik auf dem Friedhof Pere
Lachaise signifikant sein, das Jens Rosteck überaus eindrucksvoll
erzählt. So signifikant für die Stellung der nachlebenden Generationen
zu den Herausforderungen, die Wilde uns zumutet, daß sich auch erklärt,
warum bis heute das Wohnhaus Wildes in der Londoner Tite Street kein
Museum ist. Merlin Holland, der Enkel Wildes, schrieb mir einmal von
jener paradoxen Situation, daß für ein Wilde-Autograph 6.000 bis 7.000
englische Pfund bezahlt würden, daß aber für ein noch so bescheidenes
Museum kein Geld vorhanden sei. Und: "I think that is just a fairy
tale."