Biographie

Geschwister im Geiste

Diese Namen fallen wie Schneeflocken. Diese russischen Namen. Welchen kann man sich schon leicht merken? Haften bleiben die Namen, wenn sie, Flocke für Flocke, eine feste, geschlossene Schneedecke bilden. Die garantiert Bärbel Reetz: Autorin eines Romans, dessen Titel "Lenins Schwestern" sowohl Aufmerksamkeit weckt wie Befremden auslöst. Um´s sogleich zu sagen: Was vorliegt ist kein Buch über Anna, Maria, Olga, die leiblichen Schwestern des Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte. Nicht unerwähnt, sind sie eher untergeordnete Glieder einer Gemeinschaft junger, strebsamer Frauen. Frauen voller revolutionärer Gedanken und Gefühle, die den unterschiedlichsten Ausdruck in einem kürzeren oder längeren Leben fanden.

Bärbel Reetz erzählt Lebensgeschichten geistreicher Frauen, die aus begüterten, vor allem russischen Familien kamen. Frauen, die sich über die per Wiege gesicherten Privilegien hinwegsetzten und angemessenere Privilegien erstrebten. Sie schwärmten in die Schweiz aus, wo Zürich zum Zentrum der russischen Intelligenzija geworden war. Mit ihrem Fleiß stellten sie alle Studierenden in den Schatten. Die Frauen waren Geschwister im Geiste. Egal, welcher Generation sie angehörten, gemeinsam war ihnen der Ausbruch aus den Traditionen. Gemeinsam war ihnen der revolutionäre Aufbruch. Zusammenfassend schreibt Reetz kurz vor dem Schluß des Romans: "Über Jahrzehnte waren es fast ausschließlich Russinnen, die studierten, sich politisch engagierten, für die Revolution lebten – und starben. Man sollte ihre Namen auf einen Gedenkstein setzen." "Lenins Schwester" ist der Gedenkstein. Zuerst für die Verfasserin und schließlich auch für die Leser. Eingemeißelt sind nicht nur Namen. Zum Beispiel die der Raissa Adler, Vera Figner, Alexandra Kollontai, Sofia Kowalewskaja, Sabine Spielrein, Mariane Werefkin (Marijanna Werofkina). Eingemeißelt sind Daten und Orte. Bedeutungsvolle Daten und Orte. Beginnend mit Zürich, 4. Juni (23.Mai) 1873, steht über dem abschließenden, achten Kapitel Stockholm, 20. September 1944. Daten und Orte geben dem Roman eine stabile Struktur. Zwei Zeitalter sind zu besichtigen. Nicht nur Frauen- und Familiengeschichten, sind die geschilderten Geschicke Bestandteil der russischen Geschichte vor und nach den Revolutionen von 1905 und 1917. Sie sind Bestandteil der europäischen Geschichte des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Bärbel Reetz hat mit der Auswahl der Biographien mehr als Geschick bewiesen. Die dargestellten Bindungen, Beziehungen und Begegnungen der Frauen geben einen Einblick in gesellschaftliche Entwicklungen, wie sie von Historikern so selten vermittelt werden. Wann, warum und wie sich vor allem in Russland revolutionäre Kräfte konzentrierten wird in dem Roman der Frauenschicksale offensichtlicher als in aber Dutzend Büchern. Waren nicht immer die Frauen in der Geschichte der Menschheit die Treibenden, die Tapferen? Nach dem Lesen von "Lenins Schwestern" möchte man den männlichen Historienschreibern nachrufen: Wieso habt ihr die Frauen nicht eingetragen in die Geschichtsbücher? Was ist denn der Lenin ohne die Krupskaja? In der Summe sind die Schicksale der Frauen Schicksale Getriebener, Vertriebener, Getäuschter, die ihrem Impuls und ihre Intelligenz folgten, um zu erfahren und zu leben, wie männliche Machthaber die von ihnen gepflügten Äcker als Schlachtfelder mißbrauchten. Bärbel Reetz hat in acht Kapiteln enormes Wissen zusammengefaßt. Sie hat das Wissenswerteste ihres Wissen in komprimierten, geschickt arrangierten Erzählungen vorgetragen. Sie hat ihr Wissen gescheit erzählt, weil sie sprachlich anschaulich und differenziert zu erzählen versteht. So konnte "Lenins Schwestern" ein Roman werden, der diejenigen vergnügt, die denken, mitdenken, überdenken. Spaß am Lesen hat, wer sich dem Lernen beim Lesen nicht verweigert. Akzeptabel ist – und folgerichtig -, daß es, letztendlich, eine helle, klare Schneelandschaft zu sehen gibt.

Bernd Heimberger
21.04.2008

 
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Das Buch:

Bärbel Reetz: Lenins Schwestern

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Frankfurt a.M., Leipzig : Insel Verlag 2008
272 S., € 19,80
ISBN: 978-3-458-17384-7


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