Biographie

Gespräch über Goethe

"Goethes letzte Reise", Sigrid Damm´s neues Buch, ist ein Buch für zwei Tage. Mehr Tage sollten für`s Lesen nicht sein, damit das Buch nicht zerbröselt wird, das aus hunderten Scherben zusammengesetzt ist. Von Anbeginn ist klar: Dranbleiben muß man, um die Dichte der Darstellung als dichte Darstellung ungemindert zu spüren. Um auch wahrzunehmen, daß „Goethes letzte Reise“ die Addition mehrerer letzter Reisen ist. Äußerer, konkreter Anlaß für die Sammlung letzter Reisen ist eine sechstägige Fahrt ins nachbarliche Ilmenau. Ein Ausflug um die Ecke also, auf die Apapa, so von den Enkeln Walther (13) und Wolfgang (10) tituliert, die Jungen mitnimmt. Die Fahrt gönnt sich Goethe zum 82. Geburtstag. Noch einmal will er zurück an den Ort, wo sein geliebt-ehrgeiziges Bergwerks-Projekt scheiterte. Der Sechs-Tage-Trip hat nicht genug Stoff für ein Buch. Deshalb die Rückblicke und Vorausschauen auf andere letzte Dinge. Also auf die Liebe des Alten zu dem Mädchenkind Ulrike von Levetzow. Also auf August, den im Oktober 1830 in Rom sterbenden Sohn. Also auf den Abschluß von "Faust II". Schließlich, abschließend, auf Goethes tatsächlich allerletzte Reise, die ihn in das Reich Hades bringt. Das erreicht er "Halb Zwölf am Vormittag des 22. März 1832".

Diese letzten Reisen, unabhängige Ereignisse in der Biographie des Johann Wolfgang von Goethe, machen die Substanz des Buches aus, das Sigrid Damm wiederholt als "Erzählung" deklariert. „Goethes letzte Reise“ ist, nach bewährter Weise, eine Recherche, die von der Autorin mit dem Buch „Christiane und Goethe“ begonnen wurde. Die sich bereits mit „Vögel, die verkünden Land“ ankündigte: der Schilderung des schwierigen Schicksals des Jakob Michael Reinhold Lenz. Der Text liest sich heute wie eine Vorgeschichte zu dem Goethe-Konvolut, das Damm seit einem Jahrzehnt in die deutsche Literatur gestellt hat. Eingedenk dessen, was uns zum 250. Geburtstag (1999) und nun auch zum 175. Todestag (2007) des "deutschen Dichterkönig" geliefert wurde, gehören Damm´s Bücher zum Eindringlichsten und damit Einprägsamsten. Das ist nicht nur so, weil die Schriftstellerin in der Goethe-Welt wahrlich bewandert ist wie nur wenige. Vermutlich ist Sigrid Damm in der Goethe-Welt zu Hause wie in keiner anderen Welt. Alle Wege kennend, spaziert sie durch die Biographie des schwer zu Beschreibenden, der auch als Beschreiber seiner Biographie die Oberhoheit behalten wollte. Die ohnehin fragwürdige Dominanz, die sich der Doyen der deutschen Literatur sichern wollte, ist für Damm immer der Ansporn, Spuren zu sichern, die „der große Spurenverwischer“ tilgen wollte.

Beachtlich und bemerkenswert ist, was die Autorin aus den Archiven geholt hat. Man könnte ihre Arbeit eine ständige Schnipseljagd nennen, ein fortwährendes Collagieren der Schnipsel. Über die ureigene literarische Arbeit der Autorin wäre damit nichts gesagt. Das Zusammenbringen der Bruchstücke zwingt zu einer kategorischen lakonischen Diktion. Die macht die mitteilsame Anteilnahme am Aufgefundenen ebenso möglich wie die Distanz. Goethe, hat Sigrid Damm begriffen, können wir uns nur aus der Distanz nähern und distanzierend annähern. Mutmaßungen, abschließende Bewertungen, spekulative Festlegungen verbittet sich die Verfasserin. Auf Meinungen und Bewertungen muß sie deshalb nicht verzichten. Damm will ungern über Gesichertes hinaus vermuten und bewerten. Vieleher, viellieber registriert sie: "Es ist nicht überliefert." "Kein Zeugnis."  "Nicht belegt." Die Leser sind eingeladen, selbst zu denken. Sigrid Damm denkt, was ihrem Wissen entspricht. Summarisch, absolut kann sie sanktionieren: „Über die Abgründe, in die Goethe als Mensch stürzt, hilft ihm lebenslang schöpferische Arbeit hinweg.“ Zugleich hält sie es für berechtigt, Details zu verschweigen, „weil sie Goethes Intimsphäre verletzen.“ Wer vermutet, spekuliert, kann rigoros verletzend sein. Auch Damm kann rigoros sein. Dann, wenn sie den handelnden Goethe zeigt, dessen Beispiel – allgemeinem Verständnis nach – kein Beispiel ist.

So konkret der Titel des Buches „Goethes letzte Reise!“ auch gemeint ist, er meint nicht nur die Ilmenau-Reise. Der Titel ist von symbolischer Bedeutung, denn das Altern ist eine letzte, lebensbeendende Reise. Damm´s Recherche ist auch eine Recherche zum Altern des alten Goethe. Zu einem Manne, der bis in die letzten Stunden der Produktive blieb, der in der Produktivität den Sinn des Wesens, sprich der menschlichen Existenz sah. Da war und durfte der Tod kein Gefährte sein. Da war festgelegt, daß der Tod eine „andere Form des Daseins“ ist. Wer ein Sterbender war, den ließ Goethe allein. Tröstlich für ihn, daß er kein Alleingelassener war, als er "abgerufen" wurde. Was wohl Goethe gemäß war – nach Goethes Verständnis! Die letzten Lebensjahre, die in dem Buch reflektiert werden, stellen Goethe nicht ins schönste Abendlicht. Damm stülpt dem Geehrten keinen weiteren Lorbeerkranz auf´s schütter gewordene Haar. Sie sieht sich Goethe nicht schön. Bei aller  Verehrung, ist Goethe für Damm, belegt und bewiesen, ein Schöpfer, der oft genug scheiterte, ein Scheiternder, der immer schöpfte. Ein Mensch, der oft genug in Gefahr war, sich oft genug gefährdete. Ein Mensch, der Gefahren entkam und sich ihnen entzog. Ein Noch-Nicht-Zeitgemäßer in seiner Jugend. Ein Unzeitgemäßer in seinem Alter. Immer anders als Andere. Das machte die Spanne seines Lebensbogen aus. Das machte Johann Wolfgang von Goethe zeitgemäß. Allzeit!

Sigrid Damm ist nicht die Historikerin, die die Schriftstellerin in sich zügelt. Sie ist nicht die Schriftstellerin, die die Historikerin in sich bremst. Mit doppelter Stärke transformiert sie Historisches ins Literarische. So werden die Leser "mitgenommen", wie eine heute häufig gebrauchte Formulierung voller Hohlheit lautet. Bewegend und beruhigend ist die gleichbleibend-unaufdringliche Darstellung, die sich den Lesern aufdrängt. Einmal geweckte Erwartungen bleiben erhalten. Selbst, wenn dann und wann die Neugier mal abflacht. "Goethes letzte Reise“ ist ein ambitioniertes wie persönliches Gespräch über den abwesenden Herrn Goethe, dessen einzigartige Individualität das Buch anwesend macht. Ausgeprägte Individualität ist auch der wortführenden Autorin nicht abzusprechen. Augenzwinkernd erdreistet sich die Lappland-Reisende zu sagen: "Vielleicht hätte August von Goethe nach Lappland reisen...  müssen. Möglicherweise wäre das eine Chance gewesen. So aber bleibt er am Tropf." Nicht so Sigrid Damm. Sie hat sich eine, ihre souveräne Sicht auf Goethe geschrieben.

Bernd Heimberger
11.02.2008

 
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Das Buch:

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise

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Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag 2007
266 S., € 19,80
ISBN: 978-3-458-17370-0

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