Biographie
Der stille Champion
Dieser Tage wird in Berlin der nächste Herausforderer des amtierenden Schachweltmeisters Magnus Carlsen gesucht. Beim sogenannten Kandidatenturnier ermitteln die acht zweitbesten Schachspieler der Welt in einem doppelrundigen Turnier denjenigen, der die große Chance bekommen wird, als 17. Schachweltmeister in die Geschichtsbücher Einzug zu halten. Einer der acht Männer in Berlin hat seinen Eintrag in jenes Buch bereits vor 18 Jahren getätigt: Mit mittlerweile 42 Jahren darf man den Ex-Champion Wladimir Kramnik angesichts der Horde von jungen Wilden durchaus als Opa des Teilnehmerfeldes bezeichnen. Zwar können im Schachsport anders als in den meisten Bewegungssportarten auch Vierzig- oder Fünfzigjährige punktuell noch großartige Leistungen abrufen, doch wäre ein Kandidat oder gar ein neuer alter Weltmeister Kramnik ob des enormen Drucks und der physischen wie psychischen Anstrengungen in einem mehrwöchigen Wettkampf eine Riesensensation.
Wladimir Kramnik wurde 1975 am Schwarzen Meer geboren, gut zwei Monate nachdem sein Vor-Vorgänger Anatoli Karpow kampflos den Schachthron bestiegen hatte. Noch inmitten des Kalten Krieges fand der junge Wladimir ideale Bedingungen vor, um seinen Traum als Schachprofi idealtypisch in Angriff nehmen zu können. Mit elf Jahren wurde er in die Schachschule des früheren Weltmeisters Botwinnik aufgenommen, so dass sein weiterer Werdegang praktisch vorgezeichnet war. In den frühen Neunzigern feierte er erste prestigeträchtige Turniererfolge, zu einer Zeit, als Garri Kasparow das Nonplusultra in der Schachszene darstellte. Jener Kasparow hatte allerdings zeit seines Lebens mit dem Schachstil Kramniks seine liebe Mühe, so dass es nicht gänzlich überraschend war, als Kramnik am 4. November 2000 ohne eine einzige Verlustpartie sein Match gegen Kasparow um die Schachkrone siegreich gestalten konnte. Fast sieben Jahre lang hielt Kramnik seinen Titel erfolgreich fest, bis ihn 2007 der Inder Viswanathan Anand entthronte.
Mit "Wladimir Kramnik - Aus dem Leben eines Schachgenies" hat Carsten Hensel nun eine Biografie des 14. Schachweltmeisters vorgelegt. Hensel hat in seiner vielfältigen Vita einiges vorzuweisen, das ihn als Macher und Ermöglicher von Events ausweist. Er arbeitete im Organisationskomittee für die Tischtennis-Weltmeisterschaft 1989, er war Pressesprecher der Stadt Dortmund und schließlich anno 2008 maßgeblich daran beteiligt, dass nach über siebzig Jahren wieder einmal eine Schach-Weltmeisterschaft auf deutschem Boden stattfand. Darüber hinaus hat er zahlreiche Großmeister als Manager betreut, unter anderem besagten Wladimir Kramnik während dessen Regentschaft als Schachweltmeister. Erschienen ist das vorliegende Buch beim Göttinger Werkstatt Verlag, was den kundigen Leser von Sportbüchern eventuell kurz zucken lässt, da dieser Verlag für gewöhnlich vor allem hochwertige Fußball-Bücher in seinem Portfolio führt. Doch genießt das Schach schon seit einigen Jahren ein kleines Nischendasein bei den Göttingern, so dass die Kramnik-Biografie beileibe nicht das erste Schach-Buch aus deren Reihen ist.
Über zehn Kapitel hinweg führt Hensel den Leser chronologisch durch den schachlichen als auch persönlichen Werdegang Kramniks. Am Ende eines jeden Kapitels finden sich stets eine oder mehrere Partien Kramniks aus der jeweiligen Epoche, was den mit einem Schachbrett ausgestatteten Leser in die Lage versetzt, diese gleich nachzuspielen und ein Gefühl für die schachliche Entwicklung Kramniks zu bekommen. Der Autor versucht ebenfalls, hinter das Geheimnis des Erfolgs von Wladimir Kramnik zu kommen. Schließlich lässt sich Kramniks Schachstil bei weitem nicht so einfach charakterisieren wie beispielsweise der eines Garri Kasparows. Viel subtiler und stiller sind stattdessen Kramniks Züge, was wiederum eher an Kasparows vormaligen Konkurrenten Karpow erinnern lässt.
Das vorliegende Buch beinhaltet nicht nur eine Biografie Kramniks, sondern liefert neben Notationen von allen Weltmeisterschaftspartien Kramniks und einer statistischen Übersicht über sämtliche Weltmeisterschaftskämpfe seit 1886 auch noch auf knapp 30 Seiten Porträts aller 16 Weltmeister der Schach-Geschichte. Während Kramniks Regentschaft drohte dem Weltschachverband FIDE eine ähnliche Zerfaserung wie dem Boxsport, als nämlich mit der PCA seit Mitte der Neunziger Jahre ein zweiter Schachverband einen Weltmeister auf den 64 Feldern krönte. Doch dank Kramniks Sieg im Wiedervereinigungskampf 2006 konnte diese Zweigleisigkeit ad acta gelegt werden. Carsten Hensel versteht es ganz hervorragend, ganz viele dieser Geschichten spannend wie eine Partie mit einem Läuferopfer auf h7 zu erzählen.
Christoph Mahnel
26.03.2018