Glossen & Berichte

Siegfried Lenz: «Ich glaubte am Ende zu sein»

Hamburg (dpa) - Siegfried Lenz glaubte sich am Ende. Vor zwei Jahren starb seine Frau Liselotte, mit der er mehr als ein halbes Jahrhundert verheiratet war. Der große Autor («Deutschstunde») erkrankte, musste operiert werden und 42 Bestrahlungen in der Tumorklinik überstehen. Doch der 82-jährige Ostpreuße hat neuen Lebensmut gewonnen. Seine im Mai erschienene Novelle «Schweigeminute» steht weit vorn in den Bestsellerlisten. Im Wortlaut-Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa in seinem Hamburger Haus erzählt Lenz von Höhen und Tiefen. Und er blickt zurück auf den Krieg, erläutert sein Selbstverständnis als Schriftsteller und berichtet, wie der Neuaufbruch jetzt gelingen konnte.

Sie bezeichnen Ihre neues Buch als «Selbstrettung», wie ist das zu verstehen?
Lenz: «Das Buch ist unter sehr schwierigen Bedingungen entstanden. Ich glaubte am Ende zu sein nach dem Tod meiner Frau. Sie hatte die ersten Kapitel noch gelesen. Dann wurde ich selbst ein paarmal operiert, schwerwiegend operiert. Ich hatte nicht mehr das Zutrauen, dieses Buch zuende zu bringen. Ich glaubte zunächst, dass mich die Einbildungskraft verlassen habe, um es weiterzuschreiben. Aber sehr liebe Freunde haben mir geholfen, in mannigfacher Hinsicht ­ und so ist es zuende gekommen, worüber ich mich natürlich freue.»

Sie legen erstmals eine Love-Story vor, die durch einen Bootsunfall tragisch endende junge Liebe zwischen einem 18-jährigen Gymnasiasten und seiner Englischlehrerin...
Lenz: «...es ist nicht eine reine Love-Story, es ist auch Pädagogik im Spiel, Pädagogik und Liebe. Die Engländer haben einen schönen Ausdruck hierfür: love and circumstances, die Umstände, unter denen eine Liebe möglich ist. Und das sind die Umstände hier, wobei die Gebrochenheit, die Autorität der Lehrerin und die Abhängigkeit des Schülers eine eigene Komplikation haben.»

Mit Ihren Werken haben Sie dazu beigetragen, die jüngere deutsche Geschichte aufzuarbeiten, die Demokratisierung der Bundesrepublik befördert ebenso wie die Aussöhnung mit Polen. Sind Sie mit dem Erreichten zufrieden?
Lenz: «Was ich glaubte von mir aus sagen zu müssen im Sinne eines Einspruchs, eines Vorschlags habe ich zu tun versucht. Wie Heinrich Mann sagte, Literatur bietet dem Leser Angebote, sich abzustimmen oder sich zu verweigern. Zufrieden? Kann man zufrieden sein, je zufrieden? Doch ich bin zufrieden.»

Ihre großen Romane kamen zu rechten Zeit. «Deutschstunde» 1968, als Autoritäten in Frage gestellt und die jüngere Geschichte tabulos aufgearbeitet werden sollte. Und in «Heimatmuseum» (1978) haben Sie ­ lange vor Grass' Novelle «Im Krebsgang» (2002) über Heimatverlust und Vertreibung ­ Heimat literarisch wiederauferstehen lassen und so zumindest einem Teil der Vertriebenen inneren Frieden schenken können?
Lenz: «Sie haben bezeichnet, was mir am Herzen lag. Die Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Aber was mich besonders beeindruckt hat: Ich musste jetzt viele Male, 42 Mal, in die onkologische Klinik hier in Hamburg-Altona. Und der behandelnde Arzt empfing mich so freudig, dass ich ihn freimütig nach dem Grund seiner Freude fragte. Weil ich assoziativ zunächst mir dachte, so freudig kann einen nur der Tod willkommen heißen. Und da sagte er: "Herr Lenz, ich möchte Ihnen die Hand geben. Ich habe in meiner Abiturarbeit über Ihre 'Deutschstunde'geschrieben." Und ich frage "Und?" "Mit Glanz bestanden!" Ich sag, "ich bin erleichtert".» (lacht)

Nochmal zu Willy Brandts Ostpolitik, die Sie unterstützten einschließlich der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze. Ein Teil der Vertriebenen war empört und warf Ihnen, dem sogenannten Heimatverräter, Ihre Bücher in den Garten, hier in dem Haus, wo wir sitzen?
Lenz: «Da drüben (zeigt mit der Hand). Ich war unterwegs und meine Frau rief mich an und sagte. Stell Dir vor, jetzt haben sie wieder ein paar Bücher in den Garten geworfen ­ aus Missbilligung dessen, was ich zu tun versuchte. Günter Grass und ich waren ja 1970 auch in Warschau. Willy Brandt hatte uns eingeladen zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags mit dem mittlerweile historischen Kniefall, den ich habe erleben können. Ich war tief beeindruckt. Ein Mann mit dieser Biografie, der nichts dagegen tun konnte, übermannt zu werden angesichts der Geschichte und dessen, was im Jüdischen Ghetto geschehen ist. Ich weiß ein wenig darüber durch meinen Freund Marcel Reich-Ranicki.»

Glauben Sie dass dieser Kniefall mehr Wirkung hatte als viele Reden?
Lenz: «Zumindest in unseren Nachbarländern. Ich habe 30 Sommer lang in Skandinavien gelebt, ich spreche die skandinavischen Sprachen. Und ich erinnere mich mit Freude und Dankbarkeit an die Reaktion in der skandinavischen Presse. Und ich denke daran, weil ich auch Freunde in Holland habe, wie die holländischen Medien diesen Kniefall kommentierten ­ im Unterschied zu einigen Politikern hier.»

Nach dem Krieg haben Sie sich philosophisch orientiert am französischen Existentialismus, der die Verantwortung des Einzelnen betont. Sie haben in Ihren Werken immer wieder Situationen konstruiert, in denen sich Ihre Protagonisten bewähren und vor allem entscheiden mussten. Haben Sie solche Situationen selbst erlebt?
Lenz: «Nein, eigentlich nicht. Aber ich stellte sie mir vor im Sinne von Max Frisch "Ich stelle mir vor". Dass Du verurteilst wirst, zu wählen, zu entscheiden und im Voraus weißt und absehen kannst, dass - gleichwie Du dich entscheidest ­ ein Makel zurückbleiben, ein Ungenügen zumindest zurückbleiben wird. Das heißt: Du musst eine Entscheidung treffen, die Dir nachgehen wird in jedem Fall. Das hat mich immer beschäftigt, weil viele unserer Mitbürger in solchen extremen Situationen, wie sie sagen, gewesen sind und sich haben entscheiden müssen. Ich habe in dem Zusammenhang auch die Novelle "Ein Kriegsende" geschrieben über das Thema Befehlsverweigerung.»

In Ihrer Biografie ist eine solche Extremsituation genannt. Kurz vor Kriegsende sind Sie in Dänemark als Soldat desertiert. Die Darstellungen sind unterschiedlich. Sie sollen Zeuge einer Hinrichtung gewesen sein oder hätten gar selber daran teilnehmen sollen. Was war passiert?
Lenz: «Ich war im letzten Jahr des Krieges Seekadett auf der "Admiral Scheer", ein schwerer Kreuzer, der dann in Kiel bei einem Bombenangriff an der Pier versenkt wurde. Die Besatzung kam nach Naestred (Dänemark) in eine ehemals dänische Kaserne. Wir hatten dort Grundausbildung - bei der Marine gibt es immer Nachholbedürfnisse. Eines Tages sagte ich mir kurz vor Ende des Krieges "das hat keinen Zweck, Du musst zurück, Du musst nach Hause". Im Gespräch mit zwei Marinekameraden kamen wir zu dem Entschluss, wir versuchen nach Deutschland zu kommen. Da haben wir uns auf den Weg gemacht. Dänen haben uns unglaublich unterstützt, diese drei streunenden deutschen Marinesoldaten. Wir kamen an die Grenze. Englische Panzerspähwagen erwarteten bei Krusau alle deutschen Truppen, die aus dem Norden zurückkamen und dirigierten uns in eine Gefangenschaft in ein Dorf, das Witzwort heißt ­ sehr symbolisch, in der Nähe von Husum. Und da kampierten wir auf freiem Feld, kochten uns Brennnesseln und was es sonst noch zu essen gab.»

War das Desertieren eine spontane Entscheidung oder Folge Ihrer wachsenden Distanz zur Nazidiktatur? Sie waren anfangs wie alle ihre Kameraden eifriger Hitlerjunge, Zweifel wuchsen nach dem Attentat auf Hitler im Juli 1944, dann erlebten sie Not und Elend der Flüchtlinge. Gingen Ihnen zunehmend die Augen auf? Lenz: «Das hat damit zu tun, durchaus.»

Und auslösendes Moment wurde die Hinrichtung, bei der Sie Zuschauer waren?
Lenz: «Das war ein auslösendes Moment. Der Entschluss ist aber nicht auf den Punkt zu bringen, sondern entwickelte sich gleitend.»

Ihren Roman «Exerzierplatz» (1985) könnte man aus heutiger Sicht deuten auch als Warnung vor einer neuen Militarisierung der Bundesrepublik ­ Soldaten kommen und zertrampeln die Setzlinge der prosperierenden Baumschule, die als Metapher fürs Land dient. Ist Deutschland mit seinen zunehmenden Auslandseinsätzen in der Gefahr abzugleiten in militärische Abenteuer?
Lenz: «Nein, überhaupt nicht. Der Bundestag hat die Einsätze beschlossen und legitimiert. Es geht nicht ohne die Zustimmung des Parlaments. Das finde ich in Ordnung. Wir sind schließlich Mitglied der Nato und diese hat ihre Mitglieder an Pflichten zu erinnern, was sie auch tut.»

Ihre Bücher sind vielfach Pflichtlektüre an Schulen und Hochschulen, erfreut Sie das?
Lenz: «Viele haben mich gefragt, sind Sie einverstanden damit, dass so viele Studenten und Abiturienten über ihre Bücher Examen machen? Ich sage: "Ja, ich bin aus ganzem Herzen damit einverstanden!" Wem soll denn die Literatur als Lektüre vorbehalten sein? Dem Friseur oder Mann, der den weißen Strich auf der Autobahn nachzieht?»

Ist «Pflichtlektüre» nicht doch per se problematisch? Sie bedeutet zwanghafte Auseinandersetzung mit einem Buch.
Lenz: «Ich habe über den Begriff der Pflicht einiges geschrieben, wie Sie sich vielleicht erinnern werden. Ich kenne die Problematik dieses Begriffes und ich weiß, wohin eine sogenannte Pflichtblindheit den Menschen bringt. Ich möchte Sie an den Anfang unseres Gesprächs erinnern, als ich Heinrich Mann zitierte mit dem Bekenntnis, dass Literatur ein frei bleibendes Angebot ist für jedermann. Man kann es annehmen oder zurückweisen. Ich habe Respekt vor denen, die meine Bücher zurückweisen und sagen "das betrifft mich nicht, das interessiert mich nicht ­ fertig". Einigen wir uns doch darauf, dass es keine Pflicht ist. Aber wenn in der Schule, in der Universität gewisse Bücher als obligatorisch empfohlen werden, ist auch dies nur eine Empfehlung. Denn man hat nach der Lektüre die Möglichkeit, nein zu sagen und dieses Nein zu begründen.»

Würden Sie den Satz ergänzen: Wenn Schüler und Studenten meine Bücher lesen, wünsche ich mir...
Lenz: «... dass sie zu einem unterschiedlichen Fazit kommen, dass sie da einsprechen, wo sie auf Grund ihrer Erfahrung, ihrer Jugend, ihrer Fantasie sich einzusprechen genötigt fühlen. Das kann ich durchaus unterschreiben.»

Wie ist Ihr Gemütszustand momentan? Herrscht nach der «Schweigeminute» Neuaufbruch-Stimmung?
Lenz: «Ich bin ja dabei und habe einen neues Werk zu schreiben begonnen, einen Schelmenroman mit dem Titel "Das Labyrinth" ­ das ist konkret zu verstehen und vor allen Dingen natürlich symbolisch.»

 
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