Glossen & Berichte

Die neuen Romane des Frühjahrs - Zeitgeschichte und viel Liebe

Romane, in denen sich Zeitgeschichtliches mit Persönlichem verwebt, haben in diesem Frühjahr Konjunktur. Autoren wie Thomas Pynchon und Bernhard Schlink geben dafür eindrucksvolle Beispiele. Doch das Thema par excellence der Romanciers ist und bleibt die Liebe.

 Nur in der Liebe zeigt sich der Mensch in seiner extremen Ekstase und mit all seinen Abgründen, meint Martin Walser. In seinem Roman «Ein liebender Mann» beschreibt der 80 Jahre alte Autor den alten Goethe, wie er 1823 bei einem Kuraufenthalt in Marienbad vergeblich um eine 19-Jährige wirbt und am Ende allein und verzweifelt zurückbleibt. 

Walser mag dabei von seinem amerikanischen Schriftstellerkollegen Philip Roth inspiriert worden sein, dessen Romane meist um die Not alternder Männer kreisen, die junge Frauen begehren. In seinem Roman «Exit Ghost», der vor Roths 75. Geburtstag im März erscheint, lässt er seinen langjährigen Protagonisten Nathan Zuckermann aus seiner Einsiedelei nach Manhattan zurückkehren. Sogleich findet dieser sich durch zwei Frauen - eine junge, erotisch anziehende und eine alte, kranke - existenziell herausgefordert.

Persönlich erlebte Geschichte ist hingegen das Thema in Bernhard Schlinks neuem Roman «Das Wochenende» ­ gewissermaßen dem literarischen Nachspiel zu den Sachbüchern im vergangenen Jahr. Darin hatte er sich dreißig Jahre nach dem «Deutschen Herbst» eingehend dem RAF-Terrorismus gewidmet. In seinem jüngsten Roman trifft ein begnadigter Terrorist nach zwei Jahrzehnten im Gefängnis wieder mit seinen ehemaligen Weggefährten und Freunden zusammen. Dabei werden Lebensläufe sichtbar, in denen der Terrorismus eine entscheidende Rolle spielt, die sich dann aber ganz unterschiedlich entwickeln.

 Einen größeren Ausschnitt der deutschen Geschichte nehmen zwei jüngere deutsche Autoren in den Blick. Ihrer bisher größten literarischen Herausforderung stellt sich die 1967 in Ost-Berlin geborene Jenny Erpenbeck mit ihrem Roman «Heimsuchung»: In einem Haus an einem märkischen See zeigt sich anhand der Schicksale seiner unterschiedlichen Bewohner die deutsche Geschichte von den 20er Jahren bis zur Gegenwart in einem grellen, manchmal aber auch versöhnlichen Licht.   In seinem Roman «Kaltenburg» betrachtet Marcel Beyer die deutsche, vornehmlich ostdeutsche Geschichte von den 30er Jahren bis zur Wende aus dem Blickwinkel zweier Biologen. Wie schon in seinem Roman «Flughunde» verwebt der 42 Jahre alte Autor kunstvoll Zeitgeschichtliches, Biografisches und Wissenschaftshistorisches.

Ganz international gibt sich der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon. In seinem Roman «Gegen den Tag», mit mehr als 1700 Seiten wohl der längste dieses Frühjahrs, beleuchtet er die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei wandert er von der Weltausstellung in Chicago 1893 über das New York der Jahrhundertwende bis nach London, Venedig, dem Balkan, weiter nach Sibirien und zwischendurch auch zu fiktionalen Orten. Pynchon deckt auf oft irritierende Weise die menschlichen Obsessionen auf, die die Katastrophe ankündigen und begleiten. 

Auf die USA und das Trauma des Vietnam-Kriegs konzentriert sich Denis Johnson in seinem Roman «Ein gerader Rauch». Der in München geborene, amerikanische Autor, Gewinner des National Book Award 2007, beschreibt wie schon in seinem Roman «Der Name der Welt» eine durch und durch zerrissene Welt, in der die Figuren verzweifelt und doch kraftvoll nach ihrem persönlichen Heil suchen.

Einen globalen Endzeitthriller vor dem realen Hintergrund der drohenden Umweltkatastrophe legt der Goncourt-Preisträger Jean- Christophe Rufin mit seinem Roman «Hundert Stunden» vor. Zentral geht es darin um das Phänomen, wie idealistische Motive in destruktive Gewaltakte umschlagen können.   In ruhigere Gewässer führt uns hingegen Peter Stamm mit seinem neuen Erzählband «Wir fliegen». Der Schweizer Autor stellt seine Figuren in ein irisierendes Licht und deckt so im Alltäglichen die kleinen, wundersamen Momente auf, die ein Leben plötzlich verändern.

Marcel Beyer: Kaltenburg
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 
394 Seiten, Euro 19,80
ISBN: 978-3-518-41920-5

Jenny Erpenbeck: Heimsuchung
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main
192 Seiten, Euro 17,95
ISBN: 978-3-8218-5773-2

Denis Johnson: Ein gerader Rauch
Rowohlt Verlag, Reinbek
928 Seiten, Euro 24,90
ISBN: 978-3-498-03222-7

Thomas Pynchon: Gegen den Tag
Rowohlt Verlag, Reinbek
1760 Seiten, Euro 29,90
ISBN: 978-3-498-05306-2

Philip Roth: Exit Ghost
Carl Hanser Verlag, München
304 Seiten, Euro 19,90
ISBN: 978-3-446-23001-9

Jean-Christophe Rufin: Hundert Stunden
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main
560 Seiten, Euro 19,90
ISBN: 978-3-10-068509-4

Bernhard Schlink: Das Wochenende
Diogenes Verlag, Zürich
240 Seiten, Euro 18,90
ISBN: 978-3-257-06633-3

Peter Stamm: Wir fliegen
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main
240 Seiten, Euro 17,90
ISBN: 978-3-10-075128-7

Martin Walser: Ein liebender Mann
Rowohlt Verlag, Reinbek
288 Seiten, Euro 19,90
ISBN: 978-3-498-07363-3

Thomas Oser, dpa
22.01.200

 
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