Krimis & Thriller

Die Bücherdiebe

Es ist Frühling in Venedig. Die Einheimischen empfinden diese Wochen meist als die schönste Zeit des Jahres, sind die Besucherhorden des bevorstehenden Sommers doch noch in weiter Ferne. Dennoch bleibt Commissario Guido Brunetti wenig Muße, diese Tage in seiner Questura zu genießen, da in der altehrwürdigen Biblioteca Merula wertvolle Bücher gestohlen und einzelne Seiten aus bedeutenden Werken herausgetrennt wurden. Brunetti, der zu seinen Studienzeiten selbst noch in der Merula ein- und ausging, kehrt nun zurück, um dieses Verbrechen an der Menschheit aufzuklären.

Der Kreis der für dieses Delikt zu Befragenden ist recht überschaubar. Neben der Direktorin der Bibliothek und einem Assistenten gibt es noch einen mittlerweile verschwundenen amerikanischen Wissenschaftler, der sich zu Recherchezwecken Zugang zur Bibliothek verschafft hatte, sowie einen ehemaligen Priester, der ein Dauergast in der Merula ist und dort die alten Kirchenväter studiert. Dieses sonderbare Interesse hat ihm auch seinen Spitznamen Tertullian verschafft. Die Ermittlungen Brunettis fokussieren sich daher ganz natürlich auf den mutmaßlichen Wissenschaftler, dessen Identitätsklärung sogleich erste Verdächtigungen bestätigt. Doch da geschieht aus heiterem Himmel ein Mord, und der Bücherdiebstahl gerät tatsächlich zu einem Verbrechen an Leib und Leben.

"Tod zwischen den Zeilen" heißt die diesjährige Neuerscheinung aus der Feder Donna Leons. Ihre Brunetti-Romane erscheinen hierzulande seit Jahr und Tag im Wonnemonat Mai, wenn der herausgebende Diogenes Verlag die deutsche Übersetzung des jeweils neuesten Werks auf den Markt bringt. Der vorliegende Roman bildet den mittlerweile dreiundzwanzigsten Fall dieser Erfolgsreihe. Doch merkt der treue Leser sogleich aufgrund der ungewöhnlichen Haptik nach Erwerb des Buches auf. "Tod zwischen den Zeilen" fühlt sich merkwürdig dünn an, und tatsächlich markiert es mit deutlich weniger als 300 Seiten historisches Niedrigwasser für die venezianischen Krimis um Guido Brunetti.

Ein Blick in die Vorschauen des Zürcher Diogenes Verlags für die zweite Jahreshälfte lässt erneut aufhorchen: Mit "Endlich mein" wird dort der nächste Brunetti-Fall für Ende November angekündigt. Der Gewohnheitsmensch wird dies als Tabubruch empfinden, denn schließlich kündigen sich mit einem neuen Brunetti-Roman stets die Sommermonate an. Doch findet demnächst ja auch eine FIFA-Weltmeisterschaft mitten in der Adventszeit statt, und man kennt Venedig aus Donna Leons Schilderungen als mindestens so korrupt wie die Altherrenriege mit Sepp Blatter an der Spitze. Abgesehen davon, dass der Leser in diesem Jahr zweimal die üppige Gebühr von 23,90 Euro für einen Brunetti-Roman berappen muss, sorgt die Wahl-Venezianerin zumindest dafür, dass in der seit Jahren gleichmäßig vor sich hin plätschernden Serie einige Gewohnheitsmuster aufgebrochen werden.

"Tod zwischen den Zeilen" ist aufgrund der Dünne des Buches wenig überraschend auch ein sehr eindimensional gestrickter Kriminalfall. Die Ermittlungen verlaufen ziemlich geradeaus, bis am Ende jemand als Täter daran glauben muss, den man gerne vor seiner Strafe bewahren würde. Donna Leon konzentriert sich fast ausnahmslos auf eng mit den Diebstählen in der Bibliothek einhergehenden Begebenheiten, als da vor allem tiefgründige Diskussionen zwischen Brunetti und seiner Ehefrau Paola bezüglich des Wertes von Büchern wären wie auch uferlose Abschweifungen in historische italienische Werke des 15. und 16. Jahrhunderts. Da merkt man als Leser sogleich, dass sich Donna Leon hier intrinsisch ergossen und ihre Liebe zu alten Büchern umfangreich zu Papier gebracht hat.

Die Stärke der Autorin ist seit jeher und zweifelsohne ihre Platzierung von Gesellschaftskritik, die mal subtil durchsickert, mal dick aufgetragen wird, ohne dass Leon aber dabei als Moralapostel oder mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Wer der Brunetti-Reihe nun seit dreiundzwanzig Fällen beiwohnt, der erwartet schon lange keinen Kriminalroman mit detektivischer Aufklärung mehr wie eventuell noch in den ersten Fällen der Reihe. Wenn sich eine Reihe so erfolgreich über mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte hinweg erstreckt, dann sind Schwankungen und Entwicklungen im Stil der Autorin zwangsläufig und auch zwingend notwendig. Alleine die Tatsache, dass der nächste Roman bei vielen Anhängern Guido Brunettis unter dem Weihnachtsbaum liegen und damit jahreszeitliche Konventionen verletzen wird, ist ein hervorragendes Argument, sich auch Numero Vierundzwanzig wieder mit Genuss und einem Glas Rotwein zu widmen.

Christoph Mahnel
22.06.2015

 
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Das Buch:

Donna Leon: Tod zwischen den Zeilen

Zürich: Diogenes Verlag 2015
288 S., 23,90 €
ISBN: 978-3-257-06929-7

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