Buch des Monats - Oktober 2008
Sturm der Gefühle in Titanic-Atmosphäre
Vor mehr als zehn Jahren feierte James Cameron mit seiner Titanic-Verfilmung gigantische Erfolge. Ein ganzes Jahrhundert nach der Zeit der großen Atlantik-Überquerungen hat der Stoff nichts an Faszination verloren. Dörthe Binkert hat sich für ihren ersten Roman "Weit übers Meer" von einer Zeitungsmeldung über eine mysteriöse Dame in einem weißen Abendkleid inspirieren lassen, die ohne Gepäck, Begleitung, Geld und Papiere die Überfahrt nach New York antrat.
Am 23. Juli 1904 verlässt der Ozeandampfer "Kroonland" mit Ziel New York den Hafen von Antwerpen. An Bord befindet sich neben 1500 Menschen aller Gesellschaftsschichten auch eine mysteriöse, knapp 30-jährige Frau, die nur mit einem bezaubernden, weißen Abendkleid und Diamant-Ohrringen bekleidet das Schiff bestiegen hat und sich wenig später selbst als blinder Passagier meldet. Ohne viel über ihre Zukunft nachgedacht zu haben, flüchtet sie vor einer Vergangenheit, die sie nicht länger ertragen kann. Da die mysteriöse, offensichtlich wohlhabende Frau kein alltäglicher blinder Passagier und noch dazu von atemberaubender Schönheit ist, sorgt sie für Gesprächsstoff in der ersten Klasse des Dampfers.
Auch das bis dahin eher ereignislos verlaufende Liebesleben des Geologen Thomas Witherspoon bringt die Dame in Weiß in Aufruhr; er ahnt noch nichts davon, dass es womöglich noch einen anderen Mann gibt, der alles dafür geben würde, mit der blinden Passagierin ein gemeinsames Leben in der Neuen Welt anzufangen. Mehr oder weniger bewusst hoffen die quirlige und zierliche Billie Henderson und William Brown – auf den ersten Blick ihr standesgemäßer Begleiter –, der Künstler Henri Sauvignac, der zur Ausstellung seiner Werke nach St. Louis fährt, das kinderlose Ehepaar Borg und die Familie Vanstraaten – alle mit ihren großen und kleinen Problemen – auf ein neues, besseres oder einfach verändertes Leben nach ihrer Ankunft in New York.
Auf der neuntägigen Überfahrt müssen all diese Passagiere nicht nur einen meteorologischen Sturm, der allen schwer zusetzt, überstehen, sondern auch einen Sturm der Gefühle. Lange Zeit unterdrückte Gefühle und Erinnerung werden – ganz wie die Wogen des Meeres – wieder aufgewühlt, Geheimnisse aufgedeckt und neue Bande geknüpft. Die Weite und Freiheit, die eine Fahrt über den Atlantik bieten, sind eine einmalige Kulisse für die Geschichten dieser Charaktere. Dörthe Binkert, die ihrem Roman das Perikles-Zitat "Die Freiheit des Menschen ist sein Mut" vorausschickt, versteht es, die Vielschichtigkeit dieser Personen und ihre tiefsten Gefühle mitreißend darzustellen.
Sabine Mahnel
15.09.2008