Buch des Monats Januar 2025

Agatha-Christie-Flair im schwedischen Niemandsland

Vier Geschwister feiern auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie im Jahre 2020 gemeinsam Weihnachten in einem abgelegenen Anwesen fernab der Zivilisation. Eingeladen dazu hat der älteste Bruder Ludvig, ein renommierter und angesehener Künstler. Seine drei Geschwister Leif, Lars und Louise hat er individuell eingeladen, um sicherzustellen, dass auch alle vier Geschwister die Einladung wahrnehmen. Ihr letztes gemeinsames Treffen liegt rund ein Vierteljahrhundert zurück, was nicht verwundert, da das Verhältnis untereinander schlecht bzw. in Teilen überhaupt nicht existent ist. Ludvig Rute ist sterbenskrank und möchte scheinbar seinen Geschwister etwas Wichtiges mitteilen. Einen Tag verbringen sie tatsächlich gemeinsam, doch bereits am nächsten Morgen wird der Gastgeber erschlagen aufgefunden. Unisono lassen die drei hinterbliebenen Geschwister verlauten, dass es wohl ein Bilderdieb gewesen sein muss, da auch zwei Gemälde fehlen.

Ob dieses Kapitaldelikts werden die beiden miteinander verheirateten Kommissare Gunnar Barbarotti und Eva Backman aus ihrer Weihnachtsidylle gerissen. Sie nehmen die herausfordernde Fahrt durch halb Schweden zum Tatort auf sich und treffen dort bei ihren Vernehmungen auf eine Mauer des Schweigens und ein Geflecht von wechselseitigen Antipathien. Die Feiertage verstreichen und das neue Jahr beginnt, doch führt das Kopfzerbrechen der beiden Kommissare zu keinerlei Fortschritten. Erst beharrliche Recherchen zu den letzten Berührungspunkten der vier Geschwister fördern Strohhalme zu Tage, an denen sich die Polizei entlanghangeln kann. Als sich im neuen Jahr dann die Ereignisse überschlagen und weitere Personen verschwinden und sterben, müssen die philosophischen Gespräche zwischen Barbarotti und Backman sowie Barbarottis innere Dialoge mit Gott bei der Lösung des Falls behilflich sein.

"Ein Brief aus München" lautet der lange Zeit mit Stirnrunzeln beäugte Titel des neuesten Romans aus der Feder von Håkan Nesser. Schwedens Erfolgsautor Nummer Eins hatte vor Urzeiten mit seinen Van-Veeteren-Romanen Weltruhm erlangt. Seine zweite Erfolgsreihe begründete er schließlich anno 2006 mit dem ersten Barbarotti-Roman "Mensch ohne Hund". Ursprünglich war diese Serie auf fünf Bücher angelegt, doch nach "Am Abend des Mordes" hatte Nesser eine sieben Jahre dauernde Pause eingelegt, bevor er weitere Fälle für Gunnar Barbarotti nachlegte. Mit dem vorliegenden Buch ist nun bereits der neunte Band um den in Kymlinge in Westschweden ermittelnden Kommissar erschienen, der so gerne philosophisch abschweift, sich des Öfteren mit Gott unterhält und seit geraumer Zeit mit seiner zweiten Ehefrau Eva Backman zusammenarbeitet.

Der Hintergrund des vorliegenden Falls erinnert stark an Agatha Christies "The Mousetrap", ein Whodunit bester britischer Kriminalliteratur, das ebenfalls auf einem eingeschneiten Anwesen mit einer limitierten Anzahl an möglichen Tätern spielt. Doch während dort der Fall noch vor Ort gelöst werden kann, liegt bei Nessers Romanen der Schwerpunkt eher auf dem Lösungsprozess. Dieser erstreckt sich über einen längeren Zeitraum und gipfelt schließlich in einem Brief aus München. Auffällig ist, dass der Autor die Corona-Pandemie sehr aktiv in die Handlung integriert. Humoristisch wird das vorliegende Buch durch die Interaktionen mit dem Chef von Barbarotti und Backman aufgelockert.

Håkan Nesser versteht es meisterhaft, trotz mangelnder Fortschritte einen Sog zu entwickeln, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Es gibt auch in "Ein Brief aus München" nur wenige signifikante Entwicklungsschritte oder gar Durchbrüche. Trotzdem verschlingt man als Leser Kapitel um Kapitel. Dabei wechselt der Autor immer wieder die Perspektiven und lässt somit den Leser nach und nach in die Gedankenwelt sämtlicher Protagonisten blicken. Nesser brilliert auch im vorliegenden Buch wieder einmal auf allerhöchstem Niveau, so dass man beinahe vergisst, dass er in wenigen Wochen seinen 75. Geburtstag feiern wird. Die Hoffnung auf einige weitere unterhaltsame und gleichsam faszinierende Fälle aus seiner Feder ist also durchaus begründet.

Christoph Mahnel 
06.01.2025

 
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Das Buch:

Håkan Nesser: Ein Brief aus München. Aus dem Schwedischen von Paul Berf

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München: btb Verlag 2024 432 S., € 24,00 ISBN: 978-3-442-76251-4

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