Buch des Monats August 2024
Die bekannte unbekannte Frau Adenauers
Als Auguste Zinsser, genannt Gussie, 1919 den Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, heiratet, ist sie 23 Jahre alt und er fast doppelt so alt. Adenauer hat bereits drei Kinder aus erster Ehe und ist kürzlich Witwer geworden. Näher kennengelernt haben sich die beiden Nachbarn, als Adenauers Frau die musisch begabte Gussie, Tochter eines Dermatologen, zum gemeinsamen Musizieren in ihr Haus einlädt. Nach der Hochzeit kümmert sich Gussie um die drei Halbwaisen und bekommt mit ihrem Mann fünf eigene Kinder, eines davon stirbt jedoch wenige Tage nach der Geburt.
Als Mutter von sieben Kindern und Frau des Kölner Oberbürgermeisters ist es für Gussie nicht einfach, ihren eigenen Weg zu finden. Das Leben als Mutter und Ehefrau füllt sie nicht aus, so dass sie versucht, Möglichkeiten zu finden, sich zu engagieren - in diversen Organisationen, Vereinen und auch für die Zentrumspartei, der ihr Mann angehört. Mit ihrer Meinung und ihren Ratschlägen hält sie nie hinter dem Berg, sie ist ein Freigeist mit ungewöhnlich viel Selbstbewusstsein - zumindest für eine Frau ihrer Zeit.
Schwere Zeiten ziehen für die Familie Adenauer auf, als Hitler 1933 an die Macht kommt und Adenauer vom Dienst suspendiert wird. Bespitzelung, Umzug, Flucht, Verhaftung, Erpressung und die ständige Angst um ihre Kinder - all dies treibt Gussie so weit, dass sie der Gestapo den Aufenthaltsort ihres geflüchteten Mannes verrät, um ihre Kinder zu retten. Eine Zeit, die psychisch und physisch ihre Spuren bei der sonst so lebensfrohen Frau hinterlassen hat.
Der Schauspieler, Drehbuchautor und Schriftsteller Christoph Wortberg hat sich mit Gussie Adenauer einer historischen Person des öffentlichen Lebens angenommen, die zwar bekannt war und ist, aber dennoch immer die Frau im Schatten ihres Mannes geblieben ist. In Rückblicken lässt er die 1948 auf dem Sterbebett liegende Gussie ihre Geschichte erzählen. Das Ende ist vorhersehbar.
Claudia Michelsen liest die Hörbuchversion des Romans von Christoph Wortberg, den er schlicht nach dem allseits bekannten Spitznamen seiner Protagonistin benannt hat, mit ihrer einfühlsamen Stimme und einem besonderen Gefühl für Pausen und Betonungen. Gleichzeitig schafft sie es, ohne große Aufgeregtheit, Stimmungen und Gefühle zu transportieren, die ganz leise unter die Haut gehen.
Christoph Wortbergs Porträt der Frau des späteren ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland enthält zwar in groben Zügen reale, historisch belegte Elemente, allerdings auch fiktive, um die Erzählung zusammenzufügen oder auszuschmücken. Die Fiktion ist jedoch so authentisch, dass sie zum historisch belegten Charakterbild von Gussie passt. Mit "Gussie" gelingt es Wortberg, eine bekannte und doch so unbekannte Frau sprechen zu lassen, die es verdient hat, dass sie man sie nicht nur als die Frau an der Seite eines berühmten Mannes sieht.
Sabine Mahnel
05.08.2024