Kinder- & Jugendbücher
Jugendliteratur, die zahlreiche Leserleben für immer zu ändern vermag
Sie sind in derselben Jahrgangsstufe und trotzdem in verschiedenen Welten. Julia, Marlene und Leonard im Zentrum der Aufmerksamkeit, der Rest irgendwo in ihrer Umlaufbahn. Die Zwillinge Marlene und Leonard sind die Stars der Zwölften; Julia ist mit beiden befreundet (mit Leonard sogar noch weitaus mehr als das) und hat sich so auch ihren Platz an der Spitze gesichert. Sie drei gegen den Rest der Schule, wenn nicht gar gegen den Rest der Welt. So war es eigentlich schon immer. Bis Julia ihren Laptop verliert, auf dem sie ihre geheimsten Gedanken als Blogeinträge festgehalten hat. Es sind kluge, nur allzu wahre und immer wieder auch bitterböse Kommentare über das Leben, über ihre Freunde und Mitschüler. Es sind Einträge, die ein ganz anderes Bild des beliebten Mädchens zeigen, das alle zu kennen glauben.
Eines Morgens macht plötzlich eine Internetseite die Runde, die bis dato auf privat gestellt war. Darauf zu finden sind Julias ungefilterte Gedanken, Bomben in Wortform, die sich schnell viral verbreiten. Und mit einem Mal gerät das gesamte Sozialgefüge des 12. Jahrgangs, ebenso wie das der niedrigeren Klassenstufen ins Wanken. Und Julia wird binnen kürzester Zeit zur Ausgeschlossenen. Sie wird vom Liebling der Mitschüler zum Mobbingopfer. Leonard trennt sich von ihr. Was soll's? Ihre Beziehung hatte eh nur eine Halbwertzeit von ein paar Monaten. Jedenfalls für Julia, die Leonard nur als Mittel zum Zweck sah, und weniger als die erste, große Liebe. Aber mit ihm an ihrer Seite wäre fortan nicht jeder Schultag ein Spießrutenlauf. Um diesen zu beenden, muss Julia herausfinden, wer hinter der Aktion steckt.
Gründe dafür hätten einige. Wie zum Beispiel Linda, die jahrelang von Julia und den Meller-Zwillingen aufs Schlimmste gedemütigt wird. Oder Lindas bester Freund Edgar, der heimlich in Julia verliebt ist. Oder doch jemand ganz anders? Vielleicht gar jemand aus Julias engstem Kreis? Wer auch immer die Fäden zieht: Nach der Onlinestellung von Julias Gedanken und Gefühlen ist nichts mehr so, wie es mal war ...
Was John Green für die US-amerikanische Jugendliteratur ist, ist Anne Freytag für die deutsche: nämlich eine außerordentlich begabte Geschichtenerzählerin, die Romane voll schönster Poesie und berauschendster Emotionen schreibt. Von der Lektüre ihrer Bücher wird einem ganz schwindelig. Und man fühlt sich so glücklich, zugleich aber auch traurig wie noch nie zuvor im Leben. "Das Gegenteil von Hasen" nimmt den Leser mit auf eine besonders rasante Gefühls-Achterbahnfahrt. Und auch wenn man während dieser heftigstes Herzklopfen hat, so will man bis zum letzten Satz nicht aussteigen. Denn Freytag spricht vielen, vielen Teenagern direkt aus der Seele. Die Gedanken der Protagonistin Julia zu lesen ist wie ein Eintauchen "in eiskaltes Wasser" - klärend für den Kopf, schockierend für die Sinne und trotzdem wunderschön sowie fesselnd.
Es gibt nur wenige, höchstens eine Handvoll Autor(inn)en weltweit, die das schriftstellerische Können ähnlich grandios, geradezu überwältigend beherrschen wie Anne Freytag. Ihre Schreibkunst ist von solcher Genialität, dass es einem nach dem ersten Satz den Atem, außerdem die Sprache verschlägt. Ihre Geschichten sind ein Geschenk, das man hüten muss wie einen äußerst wertvollen, weil einmaligen (Lese-)Schatz! "Das Gegenteil von Hasen" ist nicht nur für Jugendliche ein absolutes Must-read, sondern ebenso für Erwachsene, die wissen wollen, was in ihrem pubertierenden Nachwuchs emotional wirklich vor sich geht. Dieses Buch hält Tausenden Teenagern einen Spiegel vor. Das hat echt Seltenheitswert. Und muss man lesen, unbedingt!
Susann Fleischer
29.06.2020