Wissenschaften

Urbanes Kaleidoskop der Antike

Wer sich heutzutage Psychiater, Historiker, Demograph und Autor nennen kann, den darf man getrost als modernen Universalgelehrten bezeichnen. Der Brite Colin McEvedy, der die Eliteschule Harrow besuchte, bevor er in Oxford studierte, war ein solcher. Neben seiner Haupttätigkeit als Psychiater forschte er auch als Historiker und Demograph und brachte historische Atlanten auf den Markt, die heute noch als Standardwerke an Universitäten gelten. Bei seiner Arbeit als Autor sondierte er nicht nur die Quellenlage, sondern zeichnete das Kartenmaterial auch selbst. Als eines seiner ambitioniertesten Werke gilt wohl der vorliegende Band, dessen Veröffentlichung er leider nicht mehr miterleben konnte.

McEvedys Ziel war es, einen Atlas bzw. eine Art antiken Stadtführer mit Einträgen zu jeder Stadt des römischen Reiches, die jemals die 10.000-Einwohner-Marke überschritt, zusammenzustellen. "Städte der klassischen Welt. 120 Zentren der Antike von Alexandria bis Xanten" ist das Ergebnis, das posthum veröffentlicht wurde.

In alphabetische Reihenfolge angeordnet, beginnt dieser außergewöhnliche Städteführer gleich mit einer der größten Städte der Antike: Alexandria. Neben den üblichen Angaben zur Geschichte, Bevölkerung und Topographie der Stadt enthält der Artikel über Alexandria auch Exkurse zu den bekanntesten Bauwerken der Stadt, u.a. dem Leuchtturm von Pharos und der Bibliothek. Natürlich darf bei keinem Eintrag die von McEvedy selbst gezeichnete Karte der Stadt fehlen. Das Besondere an seinen Stadtkarten ist, dass sie alle im selben Maßstab gezeichnet sind, so dass man sofort einen Eindruck von den Größenunterschieden der einzelnen antiken Städte gewinnen kann. Den einen oder anderen mag verwundern, dass z.B. Alexandria fast eine Doppelseite einnimmt, während Athen, das man gemeinhin als eines DER Zentren der Antike bezeichnen würde, nur etwa eine halbe Seite einnimmt.

McEvedys Führer durch die urbane Welt der Antike hält aber auch in anderer Hinsicht Überraschungen bzw. Neues, da weniger häufig in der üblichen Literatur zur Antike erwähnt, für historisch Interessierte bereit. Neben den bekannten Zentren der Antike, die häufig auch heute noch große Städte, wenn nicht sogar Hauptstädte ihrer jeweiligen modernen Staaten sind, führt er auch kleinere, unbekanntere Städte auf - auch wenn sie teilweise nicht sein selbst aufgestelltes Kriterium der 10.000er Marke erreicht haben. Zum einen sind dies Orte wie Herculaneum oder Pompeji, die zerstört wurden, zum anderen aber auch kleine Orte, wie Sirmium im heutigen Serbien oder Assur am Tigris.

Die Städte, die McEvedy in seinem über 500 Seiten umfassenden "Wälzer" vorstellt, reichen von York im äußersten Nordwesten und Tanger im Südwesten bis nach Ktesiphon im Nahen Osten und Memphis im Südosten. Auf heutige Verhältnisse übertragen, liegen diese 120 Städte, die alle einmal zu einem einzigen Reich gehört haben, in 20 verschiedenen Ländern.

Der Hauptteil von "Städte der klassischen Welt" mit den mal mehr, mal weniger umfangreichen Ausführungen zu den einzelnen Städten - je nach Größe und Quellenlage - wird ergänzt durch einen ausführlichen Anhang mit Quellenangaben zu jeder Stadt - zum weiterführenden Selbststudium -, einem Orts- und Sachregister sowie einem Personenregister und vier Karten, die die klassische Welt in vier Epochen zeigen: 325 v. Chr., 1 n. Chr., 300 n. Chr. und 600 n. Chr. Auf der großen Übersichtskarte auf der Innenseite der Buchdeckel vorne und hinten sind außerdem zum besseren Überblick alle behandelten Städte mit ihren heutigen Namen eingezeichnet.

Für Hobby-Historiker und historisch Interessierte ist McEvedys Werk deshalb ein großer Gewinn, weil es ein differenziertes und umfangreiches Bild der Entwicklungsphasen antiker Städte abgibt und der englische Universalgelehrte sich nicht dem Zwang zur Spezialisierung gebeugt hat. Anders als bei den heute immer üblicheren Monographien bietet er dem Leser breitgefächertes Wissen mit seinen politischen, militärischen, ökonomischen, architektonischen und kulturellen Informationen zu den 120 antiken Städten, die er größtenteils auch selbst aufgesucht hat.

Sabine Mahnel
25.11.2013

 
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Das Buch:

Colin McEvedy: Städte der klassischen Welt. 120 Zentren der Antike von Alexandria bis Xanten. Aus dem Englischen von Susanne Held

Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2013
537 S., € 29,95
ISBN: 978-3-608-94771-7

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