Wissenschaften

Musik als kulturelle Praxis in der Renaissance - Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zu Laurenz Lüttekens "Musik der Renaissance"

Ist ein Literaturwissenschaftler ?berhaupt berechtigt, ein musikwissenschaftliches Werk zu w?rdigen? Zweifellos in diesem Fall, wo es um eine kulturelle Praxis in der Renaissance geht! Man kann in diesem Werk die unterschiedlichen Entwicklungen wie die Gemeinsamkeiten der beiden Bereiche der litterae und der Musik verfolgen und bekommt endlich einmal Antwort auf viele der Fragen, die man als Literaturwissenschaftler an diesen kulturellen Sektor zu stellen hat, der doch eng mit dem literarischen Feld vernetzt ist. Orpheus ist in der Welt der Dichtung seit Angelo Polizianos auf 1470 oder 1480 datierter Fabula di Orfeo allgegenw?rtig, besch?ftigt aber erstaunlicherweise den Musikwissenschaftler weniger als den Philologen, weswegen beispielsweise die Aufs?tze von Ludovico Zorzi1 nicht ins Blickfeld des Verfassers gerieten. Nat?rlich kommt er auf ihn zu sprechen (bes. S. 220), doch vielleicht sch?tzt er die poetischen Spekulationen ?ber den >Musiker< Orpheus auch als kontraproduktiv zu seinem eigentlichen Anliegen ein, die Musik dieser Epoche aus der Sph?re des Allgemeinen in jene der konkrete Aus?bung zu holen, in der die Errichtung von Kapellen an den H?fen, die ?konomische Losl?sung des Komponisten vom liturgischen Dienst bzw. das Herauskristallisieren einer individuellen Pers?nlichkeit von Komponisten oder Interpreten, die Ausdifferenzierung einer spezifischen Wahrnehmung von Musik, deren Verbreitung in Handschriften und Drucken sowie deren Auff?hrung durch Spezialisten f?r das Spielen bestimmter Instrumente oder den Gesang verbunden ist. Orpheus ist hier Inbegriff ?der ausschlie?lich auf die mechanische T?tigkeit und die dadurch ausgel?sten Affekte? (176) konzentrierten Eigent?mlichkeit des Musizierens, das allerdings in der Renaissance einen Bedeutungswandel des Begriffs von virtus nach sich zieht, der heute im Begriff des ?Virtuosen? weiterlebt. Wir bringen ihn wohl kaum mehr mit einem Tugendideal in Beziehung, er wurde damals aber anders verstanden, denn ?[d]ie virtus des Instrumentalisten, bevorzugt des Organisten oder Lautisten, erm?glichte es, der gesamten Wissenschaft der Musik im Augenblick des Spiels zu einer solchen Pr?senz zu verhelfen, dass der eigentliche Makel der handwerklichen Grundierung verschwand? (176). Diesen Vorgang beschreibt L?tteken mit Blick auf Vasaris Kritik an der Virtuosit?t Tintorettos (vgl. 177) ?berzeugend, doch k?nnte man seine Darstellung durch die ?berlegungen von Francis Goyet zum virtus-Verst?ndnis in der Renaissance2 bzw. dessen Losl?sung von ethischen Prinzipien vertiefen. Vasaris K?nstlerbiographien bem?hen sich um Regelhaftigkeit f?r die Bildende Kunst im Sinne der imitatio-Lehre, w?hrend Machiavelli oder Scaliger aus Quintilians Institutio oratoria (II, 11, 13-15) die Erfindung konkreter L?sungen jenseits der selbstverst?ndlich vorausgesetzten Kenntnis der Regeln zum besten Umgang mit solchen Regelwerken erheben. Eben dies zeichnet den ?Virtuosen? gegen?ber dem blo?en Handwerker aus.

Die Wahrnehmung spezifisch musikalischer Entwicklungen kann auch zu einem besseren Verst?ndnis von Literatur beitragen, sofern Entwicklungen in dem einen Sektor Besonderheiten in dem anderen bewusster machen, deren Bedeutung andernfalls untersch?tzt w?rde. Wenn weniger die Polyphonie als die Entwicklung eines prozessualen Verfahrens innerhalb der Satztechnik das zentrale Kriterium f?r einen ?musikalischen Wahrnehmungswandel fundamentaler Art? (15) in der Renaissance bildet, findet das ?neue, gewisserma?en prozessuale Satzgef?ge? (15) innerhalb von zwei Fixpunkten in Guillaume Dufays vierstimmiger Motette Nuper rosarum flores (1436) seine literarische Parallele in Machiavellis La Mandragola (1518), deren Szenen im Gegensatz zum mittelalterlichen Mysterienspiel ?konsequent einer bestimmten Richtung folgen?3. Da n?mlich diese Kom?die als Prototyp neuzeitlicher Dramatik gilt, sollte eine solche sp?te, aber gleichwohl treffende Best?tigung der epochalen Ver?nderungen auch von der Literaturgeschichte mehr als bisher ?berdacht werden.

Umgekehrt kann die Ber?cksichtigung von Gewohnheiten im literarischen Feld auch der Musikwissenschaft hilfreich sein. Es entsteht in jener Zeit ein neues literarisches Genre, das von den Literatur- und Gattungsgeschichten verkannt wurde, weil es prim?r mit Blick auf die Vertonung verfasst wird: ?Das poetische Genre ?Motettentext? war [?] allein in der Musik wirksam, in der Vereinigung mit der Komposition, die Vertonung prominenter, autorisierter Lyrik hingegen blieb ein Sonderfall? (168). Diese Tatsache impliziert mehrere Faktoren. Das neue Genre, das sich vorwiegend des Volgare bedient, bringt eine Vermehrung vulg?rsprachlicher Dichtung innerhalb der verschiedenen sprachlichen Areale mit sich. Orlando di Lasso schreibt Musik zu Texten in verschiedenen Sprachen und bildet ?diesen Habitus in mehrsprachigen Briefen? (168) ab. Das Franz?sische wird in Norditalien in der ersten H?lfte des 15. Jahrhunderts f?r die weltlichen Lieder bevorzugt, w?hrend der d?nische Hofkapellmeister Melchior Borchgreving ?1605 in Kopenhagen eine Sammlung italienischer Madrigale heraus[bringt]. Ob dies auf die aktive Sprachkenntnis der K?ufer schlie?en l?sst, muss mehr als fraglich erscheinen? (169). Die Literaturwissenschaft kennt die Tatsache, dass Dichtungs- und Umgangssprache entschieden divergieren. Die lateinische Poesie, die in der Liturgie vorherrscht, wird in der Praxis weltlicher Musik in den Hintergrund gedr?ngt. Wie kommt es dann, dass die unz?hligen Vertonungen von Petrarcas Dichtungen alle sp?ter sind und sich ?bis zum Ende des 15. Jahrhunderts [?] heute lediglich vier Vertonungen seiner Gedichte nachweisen? (169) lassen, wovon eines lateinisch ist? Die Aufnahme von Vertonungen von Vergil oder Horaz durch Josquin Desprez, Ludwig Senfl, Cipriano de Rore, Orlando di Lasso u.a., die Paul van Nevel mit dem Huelgas-Ensemble gemacht hat, spiegelt offenbar kein g?ngiges Ph?nomen wider, sondern verfolgt einen Randbereich von ?sehr eng umgrenzten Spezialf?llen ? (167). Vor dem Entstehen des Petrarkismus konstatiert L?tteken eine Gleichstellung Petrarcas mit der antiken Dichtung. Sie k?nnte man mit der Drucklegung des Canzoniere (1501) durch Aldo Manuzio in Beziehung setzen. Der Verleger hat Pietro Bembo engagiert, um Petrarca wie eine antike Dichtung gem?? den Prinzipien der elocutio zu bearbeiten, also ganz analog wie die antike Dichtung zum Modell zu erheben. Die Literaturgeschichtsschreibung leitet daraus eine Aufwertung des Dichtens in Volgare ab, denn ihr ist nur der Eingriff in die sprachliche Form der Texte im Sinne einer grammatikalischen und poetischen Normierung aufgefallen, doch kann sie nun vom Musikwissenschaftler erfahren, dass diese f?r das Entstehen des Petrarkismus entscheidende Wendung auch andere Folgen nach sich zog, die letztlich eine ?berw?ltigende Best?tigung f?r den Erfolg des Wetteiferns mit der Antike bedeuten. Was sich auf den ersten Blick wie eine Kuriosit?t ausnimmt, erweist sich so bei n?herem Zusehen als Signal eines Epochenwandels.

Diese beiden Beispiele m?gen als Illustration der wechselseitigen Erhellung von Dichtung und Musik der Renaissance gen?gen, wie sie sich aus L?ttekens Studie ergibt. Solchen Eigent?mlichkeiten der Renaissancekultur gilt ihr besonderes Augenmerk, die der Verfasser als Musikwissenschaftler so darzustellen vermag, dass sich auch f?r den Literaturwissenschaftler faszinierend neue Perspektiven er?ffnen.

Die kulturelle Praxis der Renaissancemusik zieht insofern tiefgreifende Ver?nderungen im literarischen Feld des Dichtens in Volgare nach sich, als die Eigenheiten der Tonkunst bewusster als im Mittelalter wahrgenommen bzw. ausgenutzt und Texte den musikalischen Gesetzm??igkeiten untergeordnet wurden. Sp?tere Forschungen k?nnen er?rtern, warum sich beim Rezitieren von Dichtung vom Mittelalter zur Renaissance eine Verschiebung vom Vortragen mit Musik zum Lesen ohne Musik abgespielt hat. In Boccaccios Decameron ist nicht deutlich zwischen dem Rezitieren und dem Singen von Dichtung unterschieden, Petrarcas Canzoniere ist jedoch urspr?nglich nur f?r die Lekt?re bestimmt.

Der Gedankengang ist in f?nf Kapitel gegliedert. Er setzt unter der ?berschrift ?Epoche und Begriff? mit einer musikwissenschaftlichen Kl?rung der Unterschiede zwischen Antike, Mittelalter und Renaissance ein (9-59), um dann die neue Stellung der Musik innerhalb des Systems der K?nste und die damit verbundenen gesellschaftlichen Erscheinungen zu thematisieren (60-100). Wie in den litterae so bildet sich auch in der Musik eine neue Art von Schriftlichkeit heraus (101-144), der eine andersartige Wahrnehmung von Tonkunst entspricht (145-186), innerhalb derer Musik Einzug in den Bereich der memoria nimmt (188-223).

Es ist sicher kennzeichnend, dass in Stefano Guazzos La civil conversazione (1574) erst dann ein Musiker in die Gespr?chsrunde einer Akademie einbezogen wird, wenn es um das Loben als zentrales Moment der memoria geht. Allerdings ist es nicht bedeutungslos, dass die Musik ins Programm idealen Zusammenlebens einbezogen wird, das diese Dialoge entwerfen.4 Die Musikpraxis der Renaissance entfaltet sich an den kleinen H?fen, in den St?dten sowie in den Akademien, die als gesellige Plattformen nicht s?uberlich zu trennen sind. Die Literaturwissenschaft hat diesen Problemkreis bisher stiefm?tterlich behandelt.

Wer in Castigliones Il libro del Cortegiano verschiedentlich auf Erw?gungen ?ber Musik gesto?en ist, h?tte sich zwangsl?ufig mit deren Stellung innerhalb der geistigen und gesellschaftlichen Parameter jener Epoche besch?ftigen und ?berlegen m?ssen, wie sich die h?fischen Verhaltensnormen von der mittelalterlichen okzitanischen bzw. altfranz?sischen zur italienischen literarischen Welt des Cinquecento gewandelt haben, und welche Auswirkungen sich daraus f?r die europ?ische Zivilisierung der Sitten ergeben haben, f?r die das Ideal des Cortegiano Vorbild war. Bei Norbert Elias und analogen Werken zur Zivilisierung der Sitten fehlt dieser Bereich v?llig! Man erh?lt auch von den Kommentaren in den neueren, (von L?tteken nicht benutzen) Ausgaben des Cortegiano keinerlei Hilfestellung, erf?hrt aber nun im vorliegenden Buch, dass Castiglione sich zur Musik ?u?ert, weil die ?Ausdifferenzierung musikalischer Lebenswelten [?] ein Hauptmerkmal der sich formierenden Neuzeit? (41) ist. Diese Tatsache haben weder die Literatur- noch die Musikwissenschaftler bisher in dieser Deutlichkeit wahrgenommen und deshalb eine zentrale Komponente des Wandels der kulturellen und zivilisatorischen Praxis einfach ?bersehen, was wiederum ein Manko f?r das Verst?ndnis der artes-Lehre bedeutet. Die Literaturgeschichte hat viel mehr die Schriften zur Kunst- als die zur Musiktheorie beachtet und die Beziehung von Wort und Ton eigentlich nur f?r die Zeit des Mittelalters und nach dem 16. Jahrhundert eingehender untersucht. Seit dem Entstehen der Oper k?nnen deren Libretti nicht mehr ignoriert, jedoch als Gebrauchstexte abgetan werden. Die neuerdings lebhafte Forschung zum Chanson tendiert zum Vernachl?ssigen der reichen Korpora von Renaissance und Barock. In diesen Kontext geh?rt auch die Praxis des Parodierens als charakteristisches Merkmal der Musik in der Renaissance.

Zur Parodie im 15.-17. Jahrhundert habe ich bei Einf?hrungsveranstaltungen zu vom NDR veranstalteten Konzerten deprimierenden Unsinn aus dem Munde von Musikwissenschaftlern vernommen und freue mich, hier endlich kompetent belehrt zu werden. L?tteken bringt die Parodie ?berzeugend mit der ?Intertextualit?t? in Verbindung und erhebt sie ?zur zentralen kompositorischen Denkform, zum Wesensmerkmal der Renaissance? (128). Wenn in Messen das verbreitete Kriegslied L?homme arm? wie z.B. bei Guillaume Dufay als Vorlage dient, dann wird ?ber den cantus firmus ein ?Bedeutungsraum nicht nur im Zusammenspiel mit der Vorlage entfalte[t]? (128), sondern es werden auch ?Bedeutungsver?nderungen? (128) bewusst gemacht, denn die ?Zahl der Messen ?ber L?homme arm? ist sehr gro? (128).Von Palestrina sind ?mehr als die H?lfte seiner 104 erhaltenen Messen [?] Parodiemessen? (132). Man wird ?berlegen m?ssen, ob die literaturwissenschaftliche Besch?ftigung mit Intertextualit?t in der Renaissance Konsequenzen aus diesem Forschungsergebnis, etwa f?r den damals entstehenden Petrarkismus, zu ziehen hat.

In diesen Kontext schreibt sich auch die Neuerung ein, Musik in eigenen Handschriften zu sammeln und in einem weiteren Schritt, gegen 1500, in Handschriften, sp?ter in Drucken einzelner Formen wie Messe, Motette, Chanson oder Frottola ?die Tragf?higkeit des Modells? (120) zu erproben. Diese Gewohnheit weckt ein ?Bewusstsein musikalischer Gattungen und ihrer Normen? (121). Obwohl D?Arco Silvio Avalle schon vor Jahren f?r eine st?rkere Ber?cksichtigung der inneren Gesetzm??igkeiten von Handschriften geworben und Handschriften als Ganzheit ver?ffentlicht hat, l?sen die Philologen immer noch einzelne Texte aus den Sammelhandschriften heraus, um sie in das Korpus der Werke eines Autors zu integrieren. Sie verkennen damit die wom?glich den Sammelhandschriften zugrunde liegende Systematik. Man geht in der Regel vom Modell eines durch sein Schaffen als sch?pferische Pers?nlichkeit hervortretenden Dichters aus, w?hrend L?tteken umgekehrt die Konstituierung einer Pers?nlichkeit des Komponisten als besondere Leistung der Renaissance herausarbeitet. Zweifellos haben sich die Literaturschaffenden fr?her als die Musiker vom Prinzip der Anonymit?t gel?st, doch k?nnte man aus dem hier beschriebenen Vorgang der Herausbildung eines Modells des Komponisten, wie es Orlando di Lasso exemplarisch verk?rpert, auch umgekehrte R?ckschl?sse f?r das kollektive Verbreiten von Dichtung erw?gen, die f?r die Sammelwerke der italienischen Akademien kennzeichnend, aber noch im 17. Jahrhundert als durchgehendes Verfahren des Schreibens und Ver?ffentlichens von Texten ?blich ist.

Aussagen ?ber Musik reichen in unseren Kulturkreis weit zur?ck. Deswegen wurde nicht mit der n?tigen Deutlichkeit die Unterscheidung zwischen dem Bericht ?ber und der Charakterisierung von Musik herausgearbeitet. In Boccaccios Decameron wird am Ende jedes Tages gesungen und getanzt, doch erf?hrt der Leser nichts ?ber diese Musik und muss sich mit der Lekt?re einer Dichtung zufrieden geben. Vertonungen dieser Gedichte sind in der Handschrift Rossi 215 der Vaticana und im Codex Squarcialupi der Laurenziana ohne Namen eines Komponisten ?berliefert, sieht man von Francesco Landini ab. Nach L?tteken ist die Polyphonie des 12. und 13. Jahrhunderts in ?wesentlich sp?teren Handschrift ?berliefert? (108) und l?sst kaum R?ckschl?sse auf die Praxis zu. Nach 1300 ?ndert sich dies f?r die Mensuralmusik, auch wenn die Handschriften von Machauts Schaffen oder des Roman de Fauvel eine prim?r poetische Ausrichtung besitzen. Martin Le Francs Versepos Le Champion des dames wird als eines der fr?hen Zeugnisse zitiert, in dem ?die Wahrnehmung einer bestimmten Musik? in Worte gefasst und Aufmerksamkeit f?r ?den technischen Wandel (zu Dufay und Binchois) als habituelle Ver?nderung des Komponierens? (150) erzielt wird. Der Verfasser macht bewusst, dass eigentlich erst in der Renaissance das ?neue, fast schlagartig einsetzende Interesse an der Sammlung von Musik der unmittelbaren Vergangenheit? (109) beginnt. Bis etwa 1460 herrscht die anonyme Aufzeichnung von Musik in den Handschriften vor und die Indices ?legen den auf den ersten Blick verbl?ffenden Befund nahe, dass musikalische Autorschaft nur eines von mehreren Kriterien der Identifizierung von Werken gewesen ist? (84). Erst Codices der Sixtinischen Kapelle aus den 1470er Jahren zeigen Spuren, die daf?r sprechen, dass sie ?f?r Auff?hrungen benutzt worden? (113) sind. Dann setzt auch die Zuschreibung an einen bestimmten Musiker ein, der damit seinen Lebensunterhalt verdient, w?hrend das Fehlen solcher Aussagen letztlich zum blo?en Spekulieren ?ber die Musik der Hebr?er, Griechen und R?mer angeregt, aber auch die Musiktraktate der Renaissance vom Zwang befreit hat, die neuzeitliche als Wiederaufnahme der antiken Musik zu interpretieren.

Wir Literatur- und Theaterwissenschaftler bringen die ?berlegungen zum Wiederbeleben antiker Musik immer mit dem Entstehen der Oper in Verbindung, das im letzten Kapitel und f?r mein Empfinden vielleicht doch etwas stiefm?tterlich behandelt wird. F?r L?tteken markiert dieser Sektor das Ende der Renaissance. Ich wehrte mich hingegen schon immer dagegen, Monteverdi, der mit seiner Unterscheidung von prima und seconda pratica ansonsten ?berzeugend zum Wendepunkt erhoben ist, kurzerhand dem Barock zuzuordnen, wie wenn die Opern von Monteverdi zu H?ndel oder Vivaldi mit der Einordnung in den Barock hinreichend gekennzeichnet w?ren. Ich h?tte gerne mehr ?ber die Madrigalkom?dien von Orazio Vecchi und Adriano Banchieri erfahren, die S. 212 etwas summarisch mit der Dafne von Alessandro Striggio und Jacopo Peri und den Intermedien zu La pellegrina genannt werden. Es hat mich schon immer interessiert, wie diese Werke mit der Entstehung der Oper in Verbindung zu bringen sind. Eine Antwort auf diese Frage liefert L?tteken nicht, hingegen macht er auf die von Andrea Gabrieli komponierten Ch?re zur Auff?hrung von Sophokles in Vicenza aufmerksam (210), deren Bedeutung den Theaterspezialisten nicht bewusst ist. Vincenzo Galileis Dialoge geh?ren zu den wenigen musiktheoretischen Schriften, die auch den Literaturwissenschaftlern aufgefallen sind. Musik aus seinem Fronimo kann man sogar auf CD h?ren. Was seine Dialoge mit der Akademie, der er angeh?rte, zu tun haben, bleibt offen.

Es gibt verschiedene Gr?nde f?r die meines Erachtens unbefriedigende Behandlung der Entstehung der Oper. Die Forschung zu den italienischen Akademien ist in der misslichen Lage, dass fr?her die Polemik gegen deren Dichtungspraxis, dann eine positivistische Sammlung von Daten, heute eine rein soziologische Betrachtung das angemessene Verst?ndnis dieser hoch stehenden kulturellen Einrichtungen verstellt hat. Der Verfasser setzt an einem entscheidenden Punkt ein, dass n?mlich die ?Konfrontationen einer auf die Antike bezogenen Repr?sentation mit einer gegenw?rtigen Musik? (206) die ganze Epoche durchziehen. Er bemerkt auch zu Recht, dass die von Giovanni Bardi de? Conti di Vernio gegr?ndete und von Giulio Caccini >Camerata< genannte Vereinigung wegen ihrer losen Struktur schwer zu fassen ist und somit wenige Aufschl?sse auf den die neue Form der >Oper< entwickelnden Kreis zu gewinnen sind. Ich vermag nicht zu entscheiden, inwieweit eingehendere Untersuchungen von Akademien hier weiter helfen k?nnen. Ich bin aber auch keineswegs ?berzeugt, dass die bessere Kenntnis ihrer Organisationsstrukturen den alleinigen Weg zur Vertiefung unseres Verst?ndnisses bildet. Die literarischen Praktiken der Accademia dei Gelati haben zu Beginn des 17. Jahrhunderts gro?e Impulse f?r die dortigen Maler geliefert.5 Warum sollte nicht im Cinquecento die Musik ebenso von den zugegebenerma?en prim?r literarisch orientierten Akademien profitiert haben?

Man m?sste einen Umweg ?ber scheinbar f?r die Musik marginale Bereiche wie das Deklamieren w?hlen, um dem gesamten Komplex n?her zu kommen. Davon wird zwar S. 91 in Bezug auf die Interpretation von Texten durch Musik gesprochen, doch bleibt der ganze Zusammenhang von Rezitation und Darstellung ausgeblendet, der entscheidende Aufschl?sse vermitteln k?nnte. Die Schauspielerei hat im Vortragen antiker Dramenliteratur ihren Ursprung, wobei das Sprechen und Singen nicht klar getrennt werden, so dass noch die Berufsschauspieler lange Zeit auch gesungen haben.

L?tteken ber?cksichtigt die Bestrebungen, die Dramenliteratur als gesprochene Texte zum Leben zu erwecken und die B?hne als Brennpunkt des ?ffentlichen Raumes zu verstehen. Er verkn?pft sie mit der Mehrch?rigkeit, die ?in S. Marco in Venedig ab der Mitte des 16. Jahrhunderts systematisch entwickelt? (154) wird. Das Besondere von Venedig wird hier vielfach herausgestrichen, doch b?te sich auch eine Einbeziehung der Auff?hrung der Kom?die La Calandria von Bernardo Dovizzi da Bibbiena an, die 1513 in Urbino mit Intermedien prachtvoll unter Einbeziehung von Musik inszeniert und von Castiglione mit einem Prolog bereichert und auch sonst mehrfach erw?hnt wird. Nicht nur in Venedig ergibt sich die Chance der ?Erfahrung des Subjekts, einen nicht nur architektonisch, sondern auch klanglich bestimmten Raum erleben zu k?nnen? (155), weswegen sich in Italien ein neues Theaterverst?ndnis innerhalb urbaner Konzepte und Architekturmodelle entwickelt hat.6

Aber nicht nur das Raumkonzept, sondern auch die actio muss beachtet werden, denn die Kunst des Vortragens kann nicht f?r die Musik bedeutungslos sein. Bei Guazzo wird die K?rpersprache mit dem Ideal der Konversation und dem Vortragen von Dichtung verbunden,7 das in den italienischen Akademien bis hin zum Theaterspiel gepflegt wurde. W?rde die sog. Commedia dell?arte, die leider landl?ufig noch immer auf das Klischee des Volksschauspiels reduziert ist, mit der rhetorischen Kultur der Epoche in Verbindung gebracht, so w?rden sich ganz andere Perspektiven ergeben. Die gro?en Schauspieler haben Improvisation, besonders deutlich in der Rolle der Liebenden, als h?chste Form der Vergegenw?rtigung poetischer Sprache praktiziert und Gesang als eines der Register sprachlicher Pr?sentation verwendet. Diese N?he des Vortragens von Wort und Musik bed?rfte einer n?heren Untersuchung, die hier nicht weiter verfolgt werden kann.

Ich gebe unumwunden zu, dass L?tteken selbst mich mit seinen wegweisenden ?berlegungen zu Rhetorik und Musik (52f, 170, u. ?.) auf die F?hrte brachte, wie diese Problematik zu diskutieren ist. Nirgendwo sonst habe ich eine so eingehende und einleuchtende Charakterisierung der Musik der Renaissance mit rhetorischen Kategorien gefunden. Die Rhetorik kommt bei Johannes Ciconia ?ber das Bestreben, ?einen poetischen Text musikalisch zu veranschaulichen, ihn in einem elementaren Sinne h?rbar zu machen? (49), ins Spiel und bringt einen ?fundamentalen Wahrnehmungswandel? (50), wenn der ?performative und persuasive Habitus von Musik [?] auf die absolute Gegenwart? (50) ausgerichtet wird. Der Musiktheoretiker Johannes Tinctoris erhebt in seinem Liber de arte contrapuncti (1477) die varietas zum ?Gradmesser eines kompositorischen Gelingens?, dessen Abweichung ?zwischen absoluter, langweiliger Normerf?llung (>satietas<) und vollst?ndig verwirrender Normabweichung (>obscuritas<) [?] Vergn?gen (>delectatio<) zu gew?hren vermag? (51). Tinctoris f?hrt den Begriff der varietas im Bem?hen ein, ?das kompositorische Ereignis begrifflich tats?chlich zu bew?ltigen? (63). Die Entdeckung von Quintilians Institutio oratoria im Jahre 1416 erm?glichte ?ber den Begriff der Antinomie, das Vielheitliche ?an einer zur Einheit gestimmten varietas? (91) auszurichten.

Die Skizzierung komplexer Zusammenh?nge auf so geringem Raum geh?rt zu den gro?en Leistungen von L?tteken, dessen Studie zu Recht bei Jacob Burckhardts epochaler Kultur der Renaissance in Italien ansetzt, wo die Thematik Musik ausgeblendet ist. Sein Buch wird k?nftig einen w?rdigen Platz neben neueren Standardwerken wie denen von Peter Burke einnehmen.

Prof. Dr. Volker Kapp, Kiel 
11.12.2012

1 Il teatro e la citt?: saggi sulla scena italiana, Turin 1978.

2 Les Audaces de la prudence. Litt?rature et politique aux XVIe et XVIIe si?cles, Paris 2009, 124-135.

3 Richard Blank, Sprache und Dramaturgie. Die Ayschyleische Kassandraszene Das Osterspiel von Klosterneuburg Machiavellis ?Mandragola?, M?nchen 1968, 143. Blanks Studie hat nicht das verdiente wissenschaftliche Echo gefunden.

4 Vgl. Verf. ?Die Konversation als Sehnsuchtsort bei Scipione Bargagli und Stefano Guazzo?, Thomas Bremer ? Jochen Heymannn (Hg.), Sehnsuchtsorte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Titus Heydenreich, T?bingen 1999, 33-48.

5 Vgl. Sebastian Sch?tze, Kardinal Maffeo Barberini und die Entstehung des r?mischen Hochbarock, M?nchen 2007, 187-192.

6 Vgl. Feruccio Marotti, Lo spettacolo dall?umanesimo al manierismo. Teoria e tecnica, Mailand 1974.

7 ?[?] all?azzione esterna dee precedere l?interna, per modo tale che ?l suono delle parole e i movimenti della persona siano sospinti dall?affetto dell?animo. [?] vi ? non meno l?eloquenza del corpo che quella dell?animo? (Stefano Guazzo, La civil conversazione a cura di Amedeo Quondam, Ferrara 1993, Bd. 1, 92). Schon zuvor vergleicht Guazzo die Stimme mit einem Instrument, dem man keine Gewalt antun d?rfe: ?[?] la prima parte dell?azzione ? posta nella voce, alla quale appartiene di misurare le forze sue e usare un temperamento tale che facendole violenza non offenda l?orecchie con un suono crudo, come le corde degli stromenti musici quali toccate in alcune parti stridono? (La civil conversazione, S. 89)

 
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Das Buch:

Laurenz Lütteken: Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis

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Kassel: Bärenreiter / Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler 2011
241 S., 22 Abb.; € 29,95
ISBN: 978-3-7618-2056-8
ISBN: 978-3-476-02381-0

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