Wissenschaften

Paul Claudel – einer der Größten der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts in zwei ganz unterschiedlich strukturierten Deutungen

Zwei universitäre Monographien über Paul Claudel, von denen die von Millet-Gérard aus einer Vorlesung, die von Kaës aus einer Thèse hervorgegangen ist. Die erstaunliche Verachtung dieses überragenden Dramatikers und Dichters des 20. Jahrhunderts durch die deutsche Romanistik und die hiesigen Medien bzw. die Welt des Theaters würde derartige Leistungen zu Kuriositäten herabwürdigen können, wenn nicht das frühe Stück Tête d’Or 2005/6 zum Programm der Agrégation des Lettres gehört hätte, zu dessen Vorbereitung die international anerkannte Spezialistin Dominique Millet-Gérard an der Sorbonne eine entsprechende Vorlesung gehalten hat, in die sie die reichen einschlägigen Forschungsbeiträge eingearbeitet und für eine eigenständige Lektüre dieses ebenso berühmten (selbstverständlich seinerzeit sofort auch in der deutschen literarischen Welt wahrgenommenen) wie schwer verständlichen Frühwerks genutzt hat. Emmanuelle Kaës füllt eine Lücke der Forschung, die sich zwar immer wieder zur vielfach heftig angegriffenen Sprache dieses Dichters geäußert aber letztlich nie den Mut gehabt hat, diese Problematik umfassend anzugehen. Da für seine Dramen wie für sein Sprachkonzept der Symbolismus, besonders jedoch Rimbaud und Mallarmé, entscheidende Impulse vermittelt haben, überschneiden sich die beiden Werke zwangsläufig in einigen Teilgebieten, auch wenn man kaum unterschiedlicher die jeweilige Thematik angehen könnte als die beiden Autorinnen. Frau Millet-Gérard erstrebt eine in sich stimmige Deutung, die keiner vom analysierten Drama gestellten Anforderung ausweicht, während Frau Kaës die Chronologie als Strukturprinzip ihrer Untersuchung wählt und weniger die innere Kohärenz als die Widersprüche in Claudels Äußerungen zu seiner dichterischen Verwendung von Sprache sichtbar macht. Sie veranschaulicht seine sprachlichen Eigentümlichkeiten mit einer beeindruckenden Fülle von Belegen und besitzt die doppelte Kompetenz als Literatur- wie als Sprachwissenschaftlerin, um diese Erscheinungen einleuchtend zu kommentieren. Eben diese linguistische Kompetenz erweist sich aber insofern als hinderlich, als die sprachwissenschaftlichen Theorien sozusagen zum Bewertungsmaßstab für den dichterischen Umgang mit Sprache erhoben werden und dann fast zwangsläufig ein Defizit sichtbar wird. Wahrscheinlich ist eine Thèse nicht der passende Rahmen, um die Andersartigkeit poetischer Sprachkonzepte zur Diskussion zu stellen, weil die Freiheit schöpferischen Sprachgebrauchs einen Gegenpol zu den wissenschaftlichen Vorgehensweisen bildet und deshalb nie völlig in die linguistischen Paradigmen einzupassen ist. Die berechtigte Frage, warum eine mit wissenschaftlichen Kategorien nicht zu vereinbarende Poesie doch Anerkennung, ja Bewunderung hervorruft, gehört eben in die weiten Felder, auf denen die Deutungshoheit der Interpreten in ihre Grenzen verwiesen wird. Das Erstaunliche der Studie von Kaës ist hingegen, dass vieles, was ein großer Dichter wie Claudel ausprobieren kann, nachträglich Gemeinsamkeiten mit wissenschaftlichen Analysen aufweist, die meistens unabhängig von der dichterischen Aussage zustande kamen.

Die Untersuchung von Kaës nimmt zunächst Claudels sprachwissenschaftliche Kenntnisse (65-122), dann den Wortschatz (165-228), den Satz (229-310) und den Stil (311-340), schließlich seinen Umgang mit nicht zum Standard gehörendem Sprachmaterial (341-372) ins Visier. Seine in Art poétique entwickelten Vorstellungen vom Wort oder vom Jambus werden dabei ebenso diskutiert wie seine Betonung der gesprochenen Sprache. Zur komplexen Persönlichkeit dieses Dichters gehören die späten Versuche, die Kaës als »défiguration« (369) bezeichnet, seine ihm selbst inzwischen fremd gewordenen frühen Dramen in eine Art volkstümlicher Sprache umzuschreiben, was zu einer »homogénéisation des niveaux et des registres de langue« (360) und zu »une relecture très appauvrissante de la notion de lyrisme« (372) beträgt. Die starke Gewichtung des Satzes gegenüber dem Vers deutet Kaës als Nachwirkung »de la conception rhétorique de l’art littéraire« (289). Sie ist irritiert darüber, dass Claudel einerseits »étrangement silencieux sur la forme nouvelle du vers« (301) bleibt, also Distanz zum vers libre des Symbolismus wahrt, andererseits aber höchste Bewunderung für Stéphane Mallarmé bekundet, dessen »style parisien« (348) er seiner »gaucherie de provincial ‚rustique‘« (348) überordnet.

Eine gewisse Schwierigkeit, Claudels Verhältnis zur Sprache zu würdigen, rührt daher, dass er sich primär auf das konzentriert, was er als Dichter zu sagen hat, aber nicht bereit ist, die von Anfang an gegen ihn erhobenen schlimmen Angriffen mit einer kohärenten Sprachtheorie zu beantworten. Kaës entscheidet sich für die Konfrontation seiner verstreuten Äußerungen mit linguistischen Werken, die zur jeweiligen Zeit in der wissenschaftlichen Welt hoch gehandelt wurden, aber bis auf wenige Ausnahmen dem außerhalb Frankreichs wirkenden Diplomaten höchstens aus zweiter Hand bekannt sein konnten. Illustrieren wir diesen Sachverhalt mit einem der Untersuchungsergebnisse: Claudel befindet sich »[…] du côté de la linguistique scientifique contre les discours >mondains< sur la langue« (90), doch begeht er 1930 in Sur la grammaire durch die Verwechslung von Begriffen der Grammatik von Port Royal und Vaugelas »un double contresens« (110).

Seine doppelte Rolle als Dichter und Diplomat verkompliziert die Verhältnisse, sobald Claudel als Vertreter französischer Kultur bei seinen einschlägigen Vorträgen im Ausland Rücksicht auf die Erwartungshaltung der Zuhörer nehmen muss. Als er 1922 in Osaka als Repräsentant seines Landes über die französische Literatur sprechen muss, bedient er den Mythos der Klarheit des Französischen als universaler Sprache der Diplomatie und bewegt sich im Einklang mit Ferdinand Brunot auf den Spuren von Victor Hugo, doch sind seine Konzepte »par l’affirmation polémique du génie spécifiquement poétique de la langue française« (135) in eklatantem Widerspruch zu »pessimisme et raillerie« (136) als Merkmale französischen Geistes, die Kaës mit Ernst-Robert Curtius als antidichterisch charakterisiert. Die präzise Darstellung der Angriffe gegen Claudel von Laserre, Souday, Thérive, die in Anhängen gut dokumentiert sind (423-452), und von Tonquédec (19-64) wird mit seinen Angriffen gegen führende Linguisten aus dem Lager der Neoklassizisten in Parallele gesetzt. Seine Betonung der gesprochenen Sprache (80-85), die treffend mit »l’écoute de la langue« (303) umschrieben wird, und seine sprachlichen ‚Unkorrektheiten‘ (86-93) werden mit sprachwissenschaftlichen Theorien konfrontiert. Die Ausführungen dieses ersten Kapitels werden abschließend in einem vorzüglichen Epilog »Poétique de la langue dans Le Soulier de Satin« aufgegriffen, der nicht nur die Szenen mit Claudels Verhöhnung seiner Gegner, sondern auch seine differenzierte Selbstthematisierung als Dramatiker behandelt. Nach Kaës suggeriert er dabei, dass das dichterische Genie »déborde de toutes parts les règles de la morale, du goût et de la grammaire« (394), denn für Claudel gilt, dass »la langue française existe en dehors des écrivains, et le poète crée dans la langue, ni hors d’elle ni contre elle« (418). Dementsprechend findet die Autorin zum Schluss zu einer ganz positivmn Sicht seines Sprachkonzepts, dessen Fremdartigkeit von seiner Vertrautheit mit den griechischen Tragikern, der Bibel (in der lateinischen Fassung der Vulgata) und Shakespeare herrührt, was immerhin keine schlechte Basis ist!

Dominique Millet-Gérard vertritt überzeugend die These, dass Tête d’Or »une quête des origines« (261) widerspiegelt, in der sich der nach einen vierjährigen Ringen zum Katholizismus zurückgekehrte junge Claudel mit »les rapports historiques, culturels et surtout métaphysiques entre Orient et Occident« (260) auseinandersetzt. Das Stück überrascht seine ersten ebenso wie die heutigen Leser durch die »impression violente de confusion« (39) und durch seine Sprache. Ein ganzes Kapitel (55-76) wird für eine Art Inhaltsangabe benötigt, die einen hilfreichen Leitfaden zum Verstehen des oft dunklen Dramas liefert. Der Dramatiker veröffentlichte die zweite Fassung seines Stücks 1901 zusammen mit vier weiteren Dramen in dem L’Arbre betitelten Band, durch den er sofort bekannt wurde. Es ist entsprechend der von Mallarmé und seinem Kreis entwickelten Konzepte als Lesedrama konzipiert, und Claudel konnte sich eigentlich selbst nicht vorstellen, dass es jemals auf die Bühne kommt. Er hat in diesem literarischen Lesedrama, das kein politisches Stück sein sollte, ein großes Pensum von scheinbar heterogenen Lektüren zu einer eigenständigen Synthese verschmolzen, deren jeweilige Bewertung bzw. Gewichtung von der Einschätzung der einzelnen Komponenten abhängt. Da er sich selbst später von seinem Drama distanziert hat, dessen direkte Umsetzung innerer Kämpfe ihm peinlich vorkam, haben viele Interpreten, allen voran André Espiau de La Maëstre in seiner ansonsten verdienstvollen Thèse, neuerdings die Verwendung biblischer Elemente, besonders in der Gestalt der Prinzessin, zu bagatellisieren versucht, um den ungläubigen jungen gegen den bigotten alten Claudel auszuspielen. Frau Millet-Gérard hat deshalb vieles zurechtzurücken, um diesem faszinierenden Werk innerhalb von Claudels Gesamtwerk gerecht zu werden. Die zeitgenössischen Selbstdeutungen des Dramatikers beweisen, »le sujet de Tête d’Or, c’est la quête par le protagoniste de son propre moi« (46). Er schirmt sich gegen das Risiko »de l’idéalisme symboliste« (47) wie gegen »le défaut d’historicité« (47) der dem Mythischen zuneigenden historischen Dramen Shakespeares ab, besonders von dessen Heinrich VI. In drei Kapiteln wird das Verhältnis zu Shakespeare (77-100), zu Mallarmé und Rimbaud (123-152) und zum Mythischen, besonders von Wagner (101-122), geklärt, um dann die Bedeutung von schwierigen Episoden wie der immer neuen Sterbeszenen des Titelhelden zu eruieren (153-206) und endlich die rätselhafte mythische Struktur der Handlung innerhalb des Grundprinzips der Suche nach dem eigenen Ich offen zu legen (207-252). Am Schluss dieses Durchblicks sind zwar nicht die von Frau Millet-Gérard immer wieder angesprochenen dunklen Passagen des Textes restlos aufgeklärt, aber doch die Bauformen des Dramas und seine Botschaft einsichtig gemacht, zu dessen besserem Verständnis in diesem Buch ein wesentlicher Beitrag geleistet wird.

Während die These dieser Studie leicht zu fassen ist, fällt es schwer, die vielen vorzüglichen Einzelbeobachtungen und Interpretationen von Szenen umfassend zu würdigen. Es seien deshalb nur einige wenige Elemente als Illustration des reichen Gedankengangs dieser Interpretation herausgegriffen. Der zweite Teil, »la plus longue et la plus confuse« (62), enthält eine spektakuläre Episode, in der der völlig entkräftete Titelheld die von einem Deserteur gekreuzigte Prinzessin durch ein Herausziehen der Nägel mit seinem Mund befreit, was auf der Bühne kaum darzustellen ist. Er setzt sie wieder in ihre alten Rechte ein, die er ihr usurpiert hatte. Frau Millet-Gérard sieht hierin die Rückkehr zu einem »nouvel équilibre« (68) und einen Beweis dafür, dass Tête d’Or »un drame métaphysique« (68) ist. Die Anlehnung an antike Tragiker ist bei »la gestuelle codifiée« (81) des Botenberichts offenkundig. Die beiden Symbole des Baumes und des Goldes rühren einerseits von Wagners Tetralogie (vgl. 106f), andererseits von Mallarmé her, dessen Einfluss auf thematischer Eben liegt. Mallarmé hat »ce qu’il y a de puissament personnel et farouchement individuel dans Tête d’Or« (128) unmittelbar wahrgenommen. Stilistisch ist Claudel von Rimbaud geprägt, von dem »la matrice poétique de Tête d’Or« (144) unbestreitbar kommt. Doch belegt der Text des Dramas genauso »un extraordinaie palimpseste christique« (176), mit Schwerpunkten in der Liturgie der Karwoche und von Weihnachten. Allerdings zeigt sich, dass »le discours de Tête d’Or frise la parodie christique« (218), was dem Dramatiker ermöglicht »d’opérer le glissement poétique du héros antique à la figure christique« (219). Die Konfrontation mit der Prinzessin, die der Weisheitsgestalt des Alten Testaments nachempfunden ist, gibt dem Protagonisten die Chance »d’éprouver la piété et d’exercer la charité« (238), so dass er von einer agnostisch-materialistischen zu einer geistlichen Sicht der Seele gelangt und seinen Horizont erweitert. Claudel hat in die zweite Fassung des Stückes die Symbolik des Baumes eingefügt und mit dem Adjektiv »original« verbunden, um seine Suche nach dem Ursprünglichen und den Ursprüngen zu veranschaulichen. Die Interpretin erkennt darin zu Recht »une clef, peut-être l’essentielle, de l’oeuvre« (239).

Diese Komplexität der Aussagen von Tête d’Or wurde vielfach verkannt, so dass die Deutung von Dominique Millet-Gérard eine heilsame Korrektur der einseitigen Lektüren bildet.

Prof. Dr. Volker Kapp, Kiel
26.06.2012

 
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Das Buch:

Dominique Millet-Gérard: Tête dOr. Le Chant de lOrigine [En tout texte]

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Paris: PUPS 2011
213 S., € 20,00
ISBN: 978-2-840-50765-9

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Emmanuelle Ka?s: Paul Claudel et la langue [?tudes de litt?rature des XXe et XXIe si?cles 21 ? S?rie Claudel 1]

CMS_IMGTITLE[4]

Paris: Classiques Garnier 2011 477 S., ? 56,00 ISBN: 978-2-812-40278-4

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