Wissenschaften

Antikerezeption in der deutschen Literatur

"Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert, 
Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir. 
Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten 
Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuß." 

Goethes fünfte Römische Elegie, die dem vorliegenden Sammelband ihren Titel zutrug, markiert durch ihren enthusiasmusgeschwängerten Ton eine mögliche Form der Antike-Rezeption in der Literatur, deren Würdigung sich die Reihe der Paradeigmata zum Ziel gesetzt hat, und deren Auftakt hinsichtlich einer gesamteuropäischen Betrachtung nun die deutsche Literaturgeschichte wagen darf.

Ein 500 Seiten starkes Buch ist die Frucht der Bemühungen, einen repräsentativen Überblick dessen zu geben, wovon uns die Kraft der dichterischen Anverwandlung der Antike "vom Spätmittelalter bis in unsere Zeit" Zeugnis gibt, sei es in der mehr oder weniger kritischen Auseinandersetzung mit ihren mythischen Figuren und Stoffen, die man bei Homer oder den klassischen Tragikern vorgeformt fand, sei es in der Bereisung symbolträchtiger Orte.

Nicht selten wurde die Reflexion auf diese längst vergangene, doch in ihrem Nachwirken nie vergehende Zeit durch die Begegnung mit den langsam zerfallenden Kunst- oder Bauwerken des Altertums ausgelöst - so beschäftigt sich beispielsweise O. Hildebrand mit einem der "bedeutendsten erhaltenen Bildarchive der Antike", den antiken Sarkophagen, in Gedichten Goethes und Rilkes, wobei sehr schön der Unterschied im Selbstverständnis der beiden Dichter herausgearbeitet wird: Während es nämlich Goethe vor allem um die individuelle Größe und ihre historische Bezeugung durch das Denkmal zu tun ist, sind für Rilke die zum Brunnen umfunktionierten Sarkophage in Rom Sinnbilder der Erlösung von der schwer zu ertragenden Diesseitigkeit, des Eingehens in die Ganzheit des dionysischen Urgrunds.

Der Zusammenhang zwischen "Antikenrezeption und Dichtungstheorie" bei Rilke ist auch Gegenstand des Aufsatzes von T. Valk, der in den beiden Sonetten Früher Apollo und Archäischer Torso Apollos das "poetologische Programm der Neuen Gedichte in nuce" verwirklicht sieht - ein Programm, welches die beiden Elemente des Apollinischen und des Dionysischen - seit Nietzsches berühmter Schrift über die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik nicht mehr wegzudenken aus dem 'antiken Diskurs' - auf originäre Weise miteinander vermittelt.

Um Desiderate der Forschung bzw. um Richtigstellungen geht es auch in den folgenden Aufsätzen, die interessant und aufschlussreich für den antikebegeisterten Leser sein mögen: H.G. Kemper widerlegt überzeugend das Vorurteil, Martin Opitz wäre ein typischer barocker Regelpoetiker gewesen - im Gegenteil beginnt mit ihm jene Reflexion auf die Form der Poesie (und zwar mittels neuplatonischen Gedankenguts), die im Geniekult des Sturm und Drangs ihren Höhepunkt findet. J. Brummack möchte mit seiner Untersuchung des Entfesselten Prometheus Herders im Kontext des Schriftenkomplexes Adrastea einen, vom Fehlurteil Hans Blumenbergs unabhängigen Blick auf dieses an Aischylos angelehnte Drama ermöglichen.

Ein Schwerpunkt des Sammelbandes, neben insgesamt fünf Aufsätzen zu Goethe, ist unschwer an der Anzahl von drei Untersuchungen zu Hölderlin zu erkennen, die 1. seinen Hymnendichtungen und dem ihnen zugrundeliegenden Dichtungsverständnis nachgehen, dessen Grundlage die schmerzliche Erkenntnis ist, dass die Moderne, im Gegensatz zur Antike, keinen unvermittelten Zugang mehr zum Göttlichen hat, von dem doch die Dichtung künden soll, 2. die besondere, zwischen Prosa und Poesie schwingende Sprache im Hyperion beleuchten und 3. Hölderlin als Übersetzer des Sophokles würdigen, wobei sich B. Böschenstein der Antigonä zuwendet und Fragen wie die folgende zu klären versucht: "wie kommt Hölderlin dazu, den Samen des Zeus, den goldenströmenden, in "goldne" "Stundenschläge" zu verwandeln?"

Mit den Orpheus-Bearbeitungen im George-Kreis und der künstlerischen Legitimation dieser Gruppe durch die Berufung auf Hölderlin, dem die Wiederentdeckung des Sängers und Mittlers zwischen Menschen und Götterwelt zugesprochen wird, beschäftigt sich A. Aurnhammer, und auch D. Martin greift in seiner Untersuchung zum Motiv der Petrifizierung auf einen antiken Mythos zurück, nämlich den des Künstlers Pygmalion, der sich in sein eigenes Werk verliebt, dessen Verlebendigung er sehnsüchtig wünscht. Adaptionen dieses Mythos' reagierten, wie Martin in seinem Gang durch die Literaturgeschichte zeigt, zumeist skeptisch auf die harmonische Lösung, die, wie bei Ovid, besagt, dass Kunst und Leben miteinander vereinbar wären.

Wie unterschiedlich innerhalb des 20. Jahrhunderts über die Antike nachgedacht wurde , zeigen die emphatischen Augenblicke Hofmannsthals in Griechenland, denen die kühl räsonierende Schrift Kafkas Das Schweigen der Sirenen gegenübersteht, die Odysseus' Verhalten gegenüber der Vorlage bei Homer abwandelt und dadurch die Situation des modernen Menschen durchspielt, dem seine Reflektiertheit zur Last geworden ist. Und Musil schließlich zitiert in seinem Mann ohne Eigenschaften die Antike fast nur, um ihre Aktualisierung in der Moderne umso schärfer zurückzuweisen - als "skurrile Systematisierungsversuche" in einer Zeit der Orientierungslosigkeit.

Den Aufsätzen zu Günther Kunert und Heiner Müller hätten sicherlich noch mehr, nicht minder bedeutende Namen zur Seite gestellt werden, wie z.B. Friedrich Dürrenmatt oder Christa Wolf - letztere vor allem deshalb sehr wichtig, weil sie eine genuin weibliche Sicht der (antiken) Dinge formuliert hat, die in diesem Band leider überhaupt nicht zur Sprache kommt, und an die lediglich der Vollständigkeit halber an dieser Stelle erinnert sei.

Über das Wiedererscheinen der Götter im jüngeren Drama bildet die Schlussetappe einer sehr intensiven, facettenreichen Wanderung durch die Antikenrezeption in der deutschen Literatur, die uns mit dem Wissen entlässt, dass wir selbst mit der Schande, die die Geschichte und ihre Gräuel über uns verhängt hat, fertig werden müssen, und die die antiken Götter nur noch einmal herbei zitiert, um uns diese Wahrheit umso dringlicher vor Augen zu führen.                        

Nicole Stöcker
21.06.2004

 
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Das Buch:

Olaf Hildebrand, Thomas Pittrof (Hrsg.): ... Auf klassischem Boden begeistert

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Freiburg: Rombach Verlag 2004
518 S., € 64,00
ISBN: 3-7930-9382-4

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