Hörbücher
Schwimmen lernen im Ozean des Lebens
Als junge Studentin verliebt sich Ingrid Mitte der Siebziger Jahre in ihren 20 Jahre älteren Literaturprofessor. Hatte sie vorher noch große Pläne mit ihrer besten Freundin Louise geschmiedet, Pläne zu reisen, frei zu sein, Männer kennenzulernen und sie auch wieder in die Wüste zu schicken, einfach selbstbestimmt zu leben, so wirft sie diese Pläne schnell über den Haufen, als auch Gil Coleman, seines Zeichens nicht nur Literaturprofessor, sondern auch berühmter Schriftsteller, ihr Avancen macht und sie bereits nach wenigen Monaten bittet, seine Frau zu werden.
Ingrid wird schwanger, bricht ihr Studium ab und zieht mit Gil aus der pulsierenden Metropole London in sein Haus an der Küste. Bis auf die Tatsache, dass sie einen gutaussehenden, umschwärmten Mann geheiratet hat, den sie liebt, ist nichts so, wie sie es sich vorgestellt hat. Auch Gils Wunsch nach vielen Kindern erdrückt sie eher, als dass er ihr Vorfreude entlocken könnte. Während Ingrid sich in ihre neue Rolle als Ehefrau und Mutter zweier Töchter, Nan und Flora, einfügen muss, steht es für Gil außer Frage, dass er irgendetwas an seiner bisherigen Lebensweise ändern muss. Er ist derjenige, der sich in seinem Schreibzimmer, das Ingrid nicht betreten darf, abschottet. Er sucht weiterhin Bestätigung und Zerstreuung bei anderen Frauen und nimmt sich alle Freiheiten, während Ingrid im kleinen Haus am Meer sitzt und ihr freudloses Dasein als Mutter fristet.
Nach mehr als 15 Jahren Ehe beginnt Ingrid, ihre ganz eigene Geschichte, ihre Sicht auf eine Ehe, die für sie kaum etwas anderes als Enttäuschungen bereithielt, aufzuschreiben - in Briefen an ihren Mann. Diese Briefe gibt sie ihm jedoch nicht, sie versteckt sie in den Büchern seiner Bibliothek. Als sie den letzten Brief geschrieben hat, verschwindet sie spurlos. Zwölf Jahre nach ihrem Verschwinden glaubt Gil, seine Frau auf der Straße gesehen zu haben, läuft ihr hinterher und stürzt - oder ist er gesprungen? - vom Steg auf die Steine am Strand. Um ihn gesund zu pflegen, eilen seine beiden Töchter Nan und Flora zum Haus am Meer.
An diesem Punkt setzt der Roman bzw. das Hörbuch ein. Durch die geschickte Verknüpfung von zwei Erzählsträngen, einmal die Handlung in der Jetzt-Zeit und einmal die Briefe Ingrids, die sie kurz vor ihrem Verschwinden geschrieben hat, eröffnet sich dem Leser respektive Hörer die Geschichte dieser "englischen Ehe", wie der Titel der deutschen Ausgabe lautet, Stück für Stück. Leider ist der deutsche Titel weniger tiefgründiger als "Swimming Lessons", der englische Originaltitel. Denn hier geht es zwar vordergründig um eine Ehe, jedoch sind das Meer und damit das Schwimmenlernen im Ozean des Lebens von entscheidender Bedeutung in Claire Fullers zweitem Roman. Ingrids einzige Flucht aus dieser Ehe ist das Schwimmen im Meer. Hat ihr Mann wieder einmal eine Geliebte in seinem Schreibzimmer, geht sie schwimmen. Wann immer ihr alles über den Kopf zu wachsen droht und sie zu erdrücken scheint, sucht sie Zuflucht in den Wellen des Meeres.
Claire Fuller hat durch die wechselnde Erzählperspektive und dadurch, dass Ingrids Briefe die Vorgeschichte nur Stück für Stück enthüllen, einen Roman mit Spannung geschaffen, der auch am Ende durchaus noch Raum für Interpretation lässt. Den beiden unterschiedlichen Erzählperspektiven wird in der Hörbuchfassung dadurch Rechnung getragen, dass zwei Sprecher den Roman vortragen. Heikko Deutschmann übernimmt die erzählenden Passagen, Leslie Malton verleiht Ingrid eine Stimme und liest ihre Briefe. Zwei Sprecher statt einen ans Mikrofon zu lassen, macht bei dieser Konstellation nicht nur Sinn, sondern trägt auch maßgeblich zum Verständnis und besseren "Umschalten" auf den jeweils anderen Erzählstrang bei.
Eine ungekürzte Hörbuchproduktion mit Sprechern der oberen Schauspiel- und Hörbuchsprecherriege und eine literarisch ansprechende Romanvorlage machen "Eine englische Ehe" zu einem Hörerlebnis mit Tiefgang.
Sabine Mahnel
03.04.2017