Hörbücher
Geschrieben , um gesehen zu werden
Der englische Autor Rollo Martins reist nach Wien, um dort seinen alten Freund Harry Lime zu treffen. Als Martins jedoch in der vom Zweiten Weltkrieg zerstörten österreichischen Hauptstadt eintrifft, erreicht ihn die Kunde, dass Harry bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Martins kann kaum glauben, was passiert ist, und stellt eigenmächtig Nachforschungen zu besagtem Unglücksfall an. Dabei stößt er auf höchst merkwürdige Ungereimtheiten, angefangen damit, dass scheinbar alle Augenzeugen des Unfalls gleichzeitig mehr oder weniger gute Bekannte von Lime waren. Vor allem aber irritiert Martins die Aussage eines Anwohners, der als einziger etwas von einem Unbekannten berichtet, den kein anderer gesehen haben will. Inwieweit ist das Wissen um diesen mysteriösen "dritten Mann" ursächlich für den kurz darauf folgenden Mord an demjenigen, der diese Information sorglos an Martins weitergegeben hatte?
Martins lässt sich bei seinen Recherchen nicht beirren und bringt in Erfahrung, dass sein alter Kumpel Lime in höchst verwerfliche Schiebergeschäfte in Wien involviert war. Er handelte mit dem in jenen Tagen kostbaren Penicillin, das er zudem noch in übler, weil gewinnmaximierender Absicht streckte, wodurch dieses insbesondere für Kinder zu einem gefährlichen Medikament mutierte. Rollo Martins traut seinen Augen nicht, als er dann bei seinen Streifzügen durch Wien den leibhaftigen Harry Lime antrifft. Handelte es sich dabei nur um ein Phantom oder war es wirklich Lime? Falls letzteres, wer wurde dann auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben? Und warum wurde dann eine Geschichte konstruiert, die ihn glauben lassen sollte, dass Lime tot sei? Fragen über Fragen quälen Martins, der jedoch bereits viel zu tief in einen Strudel geheimdienstlicher Aktivitäten hineingezogen wurde.
Aus dem umfangreichen Opus des englischen Schriftstellers Graham Greene ragt kurioserweise das Buch heraus, das ursprünglich "nicht geschrieben wurde, um gelesen zu werden, sondern um gesehen zu werden". Greene war anno 1949 um ein Drehbuch für den britischen Filmproduzenten Carol Reed gebeten worden, das im Wien der Nachkriegszeit spielen sollte. Greene nahm eine Idee, die in seinem Kopf herumspukte, auf und begann, diese weiter auszugestalten. Da es ihm jedoch unmöglich erschien, lediglich ein Drehbuch hierfür zu erschaffen, schrieb er seine Erzählung "Der dritte Mann" als Roman nieder, aus dem dann das Drehbuch quasi als Endprodukt des Schaffungsprozesses entstehen konnte. So ist es auch nicht verwunderlich, dass selbst heutzutage noch der Film mit Orson Welles und der unverkennbaren Melodie von Anton Karas einen überragenden Bekanntheitsgrad besitzt, jedoch vergleichsweise nur wenige Menschen den zugrundeliegenden Roman kennen oder gelesen haben.
So ist dieser Tage eine Neuübersetzung von Graham Greenes Meisterwerk erschienen, doch damit nicht genug: Der Audio Verlag hat auf dieser Basis eine ungekürzte Lesung produziert und zeitgleich veröffentlicht. Der deutsche Schauspieler Hanns Zischler hat das 160 Seiten starke Buch über knapp vier Stunden eingelesen. Als Hörer muss man in dieser doch recht kurzen Zeit sehr viel Aufmerksamkeit aufbringen, da Greene Erzählebenen konstruiert hat, die einen leicht verwirren können. Als Ich-Erzähler fungiert der britische Major Calloway, der Martins bei seinen Nachforschungen in die eine oder andere Richtung schubst, um beizeiten schließlich seine wahren Beweggründe zu offenbaren. Doch ist dieser Erzähler keineswegs allwissend und bei der Lesung auch nicht durchgängig führend, während Rollo Martins die zentrale Figur in "Der dritte Mann" darstellt.
Im Nachwort führt Hanns Zischler aus, mit welchen Besonderheiten "Der dritte Mann" entstanden ist, so dass einem klar vor Augen tritt, welch zeitgeschichtlich wertvolles Werk aus einer sehr schmalen historischen Epoche man hier vor sich liegen hat. Es lässt sich beim Hören dieses Romans die Tatsache nicht verleugnen, dass "Der dritte Mann" in seiner geschriebenen Form nur Mittel zum Zweck war und der Roman schlichtweg ein Hilfsprodukt für den Film Carol Reeds darstellte. So wird man nach dem Konsum dieser dennoch kurzweiligen Lesung garantiert die aktuelle TV-Zeitschrift bemühen, um zu eruieren, ob in den kommenden Tagen irgendwo in einem der zahlreichen Fernsehsender eine der x-ten Wiederholung des Films läuft. Denn dann wird man zusätzlich noch in den Genuss des Harry-Lime-Themas kommen, der prägenden Melodie des Films, die stets im selben Atemzug mit diesem genannt wird und in das vorliegende Hörbuch leider keinen Eingang gefunden hat.
Christoph Mahnel
18.04.2016