Hörbücher
Gefangen in der Achtziger-Hölle
Der Familienvater Alexander Klein koordiniert am Vorabend der anstehenden Urlaubsfahrt nach Bella Italia akribisch und pedantisch die Aktivitäten sämtlicher Familienmitglieder, seiner Frau sowie seiner beiden pubertierenden Kinder. Schließlich gönnt er sich vor dem Zubettgehen noch ein Glas Rotwein, um die notwendige Bettschwere für die kurze Nacht bis zum Aufbruch in aller Frühe zu erlangen. Dabei nickt er noch am Tisch ein und verfällt in einen Traum, der ihn ebenfalls in den Aufbruchstrubel einer Urlaubsfahrt befördert. Doch ist Alexander dabei in einem jugendlichen Körper gefangen und tritt die Reise gemeinsam mit seiner Schwester und seinen eigenen Eltern an. Allmählich beginnt er zu begreifen, dass er sich in den Achtzigern befindet und den ersten Italien-Urlaub seiner Familie nochmal miterlebt.
Der erwachsene Alexander im körperlich jungen Alexander erlebt einen Perspektivwechsel der besonderen Art: Sein Vater, ein spießiger Beamter, hatte damals zum Leidwesen seiner eigenen Kinder die Urlaubsvorbereitungen sowie die Fahrt in den Süden mindestens genauso besserwisserisch gestaltet wie Alexander selbst im Jahre 2016. Die kratzbürstige Schwester Nicole, Mutter Renate sowie Oma Ilse komplettieren die Urlaubscrew, die sich in einem Ford Sierra ohne Klimaanlage auf die Fahrt über den Brenner begibt. Alexanders Opa hat die Reise aufgrund seiner Kriegserlebnisse in Italien kategorisch abgelehnt und bleibt zu Hause. Die Kleins durchleben einen unvergesslichen Trip an den Teutonengrill, wie ihn deutsche Urlauber in den Achtzigern sicherlich zuhauf zur schönsten Zeit des Jahres genossen. Doch wann wird Alexanders Traum enden und ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückbefördern?
Die beiden bayerischen Erfolgsautoren Volker Klüpfel und Michael Kobr haben bis dato ausschließlich mit den Romanen aus ihrer grandiosen "Kluftinger"-Reihe geglänzt. Acht Bände haben die beiden seit 2003 gemeinsam verfasst und einen wahren Kult um ihren Kommissar aus Altusried begründet. Nun haben sie mit "In der ersten Reihe sieht man Meer" ihr erstes Nicht-Kluftinger-Buch publiziert. Doch auch dieses Werk ist wieder eine heftige Attacke auf die Lachmuskeln. Klüpfel und Kobr haben dabei ihre eigenen Erfahrungen mit Urlauben an der Adria aus den besagten Achtzigern verarbeitet, wie einige beigefügte Bilder beweisen können. Die Geschichte des Alexander Klein, der an der Denke seiner Familie schier zu verzweifeln droht, ist ein wilder Trip zurück in ein Jahrzehnt, in dem der Ballermann noch am italienischen Adriastrand lag, die italienische Küche noch nicht geschätzt wurde und deutsche Familien stattdessen bevorzugt mitgebrachte Lebensmittel verspeisten, um sich darüber zu freuen, dass es im Urlaub ganz wie daheim schmeckte.
Der Star des vorliegenden Hörbuchs ist jedoch weder der junge Alexander noch sein allmählich auftauender Vater Norbert, sondern Bastian Pastewka. Der Comedian, einst bekannt geworden durch seine Edgar-Wallace-Parodien, glänzt mit einer ungekürzten Lesung der Buchvorlage, die einen oftmals lauthals lachend durch die Gegend gehen lässt. Die geniale Interpretation der von Klüpfel und Kobr humor- und liebevoll ersonnenen Episoden um die Familie Klein wird sich im Jahre 2016 sicherlich vor Preisen und Ehrungen kaum retten können. Herausgekommen ist nämlich ein Hörbuch, das von der ersten Sekunde an permanent gute Laune versprüht, und das nicht nur, weil man gedanklich die heiße Luft des Sommerurlaubs förmlich atmen und auf der Haut spüren kann.
Die beiden Autoren bringen wunderbare Beispiele für Anachronismen eines Zeitreisenden, der sich aus der Gegenwart drei Jahrzehnte zurückbewegt hat. Angefangen mit Streitereien bei "Stadt, Land, Fluss", wenn Alexander beim Buchstaben "M" Mazedonien als Land reklamieren möchte, fortgeführt mit den Einreisemodalitäten an Grenzen, die heute als EU-Grenzen für Touristen kaum noch Relevanz haben, bis hin zu Verhaltensweisen in einem prä-digitalen Zeitalter, als bei einsetzendem Regen guter Rat bei der Frage noch teuer war, in wie vielen Stunden oder Minuten man sich denn wieder sorglos auf seinen Liegestuhl begeben konnte. Darüber hinaus karikieren die Autoren höchst amüsant die Skepsis der gemeinen deutschen Familie gegenüber Andersartigem und fremden Kulturen, denn sehr wohl war Italien in den Achtzigern für die meisten Deutschen noch "terra incognita". Doch hier sorgt Alexander mit seinem Geist aus dem 21. Jahrhundert für sehr fruchtbare Beziehungsarbeit zwischen Deutschen und Italienern.
Selbst wer noch nie einen Urlaub an den überfüllten Stränden des Teutonengrills genießen durfte und stattdessen von seinen Eltern stets an die Nordsee oder ins Allgäu geschleppt wurde, wird an diesem Hörbuch seine Riesenfreude haben und an vielen Stellen mit Schrecken Verhaltensweisen wiedererkennen, die dreißig Jahre später komplett verschüttet gegangen zu sein scheinen. Wer beim Hören von "In der ersten Reihe sieht man Meer" nicht beständig in schallendes Gelächter verfällt oder zumindest ins Schmunzeln gerät, dem kann garantiert nicht mehr geholfen werden!
Christoph Mahnel
18.04.2016