Hörbücher

Die größte Gans , die goldene Eier legte und niemals schnatterte

Am 7. Juni 1954 wird in der beschaulichen englischen Stadt Wilmslow südlich von Manchester die Leiche eines Mannes aufgefunden. Scheinbar hat sich der 41-jährige Alan Mathison Turing selbst das Leben genommen. Darauf weisen zumindest die Zyankali-Funde in der Wohnung hin. Der hinzugerufene Kriminalassistent Leonard Correll ist sogleich von den zahlreichen mathematischen Formeln in Turings Wohnung fasziniert und beginnt, sich ein Bild von dem Mann zu machen, der viel zu früh aus dem Leben getreten ist. Die aufkommenden Gerüchte um die Homosexualität Turings liefern in den Augen aller Beteiligten eine eindeutige Erklärung für das freiwillige Dahinscheiden. Doch Correll ist andersdenkend und penetrant, so dass er einem Geheimnis auf die Spur kommt, das mehr oder weniger den Ausgang des Zweiten Weltkriegs bestimmte und deshalb selbst neun Jahre nach Ende des Krieges noch der allerhöchsten Geheimhaltung unterliegt. Correll jedoch hat bei seinen Recherchen recht rasch den Punkt überschritten, um diesen Fall selbst unbeschadet überstehen zu können.

Bekanntermaßen war der englische Mathematiker Alan Turing eines der größten Genies des Zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen vier Lebensjahrzehnten lieferte er bahnbrechende Erkenntnisse und Gedankenmodelle ab, die die Mathematik und vor allem die Informatik mächtig beschleunigen sollten. Doch darüber hinaus war Turing als der entscheidende Code-Knacker für das britische Königreich im Zweiten Weltkrieg aktiv. In Bletchley Park waren er und andere Intelligenzbestien kaserniert worden, um die als unentschlüsselbar geltende deutsche Enigma-Maschine zu knacken. Doch sukzessive gelang es Turing und Co., den gesamten - scheinbar durch die Enigma ausreichend gesicherten - deutschen Funk- und Nachrichtenverkehr zu entschlüsseln und für die britische Kriegsführung offenzulegen. Winston Churchill sprach daher einst von seinen "Gänsen, die goldene Eier legen und niemals schnattern." Unzweifelhaft war Turing ein Mann, der mit seiner Genialität den Lauf der Dinge im Zweiten Weltkrieg mitentscheidend beeinflusst hatte.

Dem Faszinosum Alan Turing erlegen ist nun auch - nach so einigen anderen Buch-Autoren und Film-Regisseuren - der Schwede David Lagercrantz. Dass dieser bei kontroversen Projekten keine Hemmungen kennt, ist durch seine beiden letzten Veröffentlichungen für jedermann sichtbar geworden. Im vergangenen Jahr wagte er sich an die heikle Aufgabe, den vierten Band der "Millennium-Trilogie" des verstorbenen Stieg Larsson zu schreiben. Davor war er als Biograph von Zlatan Ibrahimović, dem schwedischen Fußball-Star und Enfant terrible, in Erscheinung getreten. Dabei hatte er zwar die grundlegenden Gegebenheiten aus dessen Leben für sein Buch strukturell beibehalten, sich aber die Freiheit eingeräumt, Details und Gesprächsverläufe auf der Basis seines eigenen Bildes von Zlatan Ibrahimović frei und nach persönlichem Gutdünken niederzuschreiben. Offensichtlich ist Lagercrantz ein streitbarer Geist, jedoch unzweifelhaft ein sehr begabter Schriftsteller, was er in seinem neuesten Werk "Der Sündenfall von Wilmslow" erneut unter Beweis stellt.

Parallel zur Buchausgabe hat Random House Audio das vorliegende, leicht gekürzte Hörbuch herausgebracht. Mit Devid Striesow sitzt ein Schauspieler hinter dem Mikrofon, der sicherlich als Charakterdarsteller eingeordnet werden kann, was er unter anderem auch in seiner Rolle als neuer Tatort-Kommissar aus Saarbrücken auslebt. Dies bekommt man im Laufe des Hörbuchs zu spüren, wenn Striesow seine Charaktere mit sehr viel Emotion und Leidenschaft ausstattet, so dass scheinbar ein ganzes Ensemble aktiv wird. Striesow bringt schlichtweg Leben in die Bude, während der Handlungsverlauf in der Geschichte nur recht wenig Vortrieb besitzt. Lagercrantz hat anders, als es der Klappentext oder die Beschreibung vermuten lässt, keinen Spionage- oder Ermittlungsthriller verfasst, sondern ein Porträt einer Zeit, in der sich Homosexuelle wie Turing einer Hexenjagd ausgesetzt sahen. Die Versuche Corrells, Licht ins Dunkel zu bringen, werden seitens der Polizei mit völligem Unverständnis begegnet. So ist einer derjenigen Romane entstanden, die für gewöhnlich als atmosphärisch dicht beschrieben werden, um zu kennzeichnen, dass hier weniger der dramatische Handlungsfortschritt als vielmehr die detaillierte Beschreibung feiner Beobachtungen im Mittelpunkt steht.

Lagercrantz behilft sich mit einem geschickten Kniff, die Person Alan Turing näherzubringen. Indem er mit den Ermittlungen die mathematische Seite in Leonard Correll zum Erwachen bringt, beginnt dieser, in die Forschungen Turings einzudringen und sich einen Reim darauf zu machen, warum Turing sich umgebracht haben könnte bzw. weshalb sein Dasein und jeder seiner Schritte von vielen Seiten derart argwöhnisch beobachtet wurde. Dem Autor gelingt es dabei sogar, dem unbedarften Nicht-Mathematiker ansatzweise verständlich zu machen, zu welchen wissenschaftlichen Durchbrüchen Turings Überlegungen rund um Entscheidbarkeit und Berechenbarkeit sowie seine Gedankenmodelle hinsichtlich einer Universalmaschine führten. Nach Robert Harris‘ Erfolgsroman "Enigma" und dem Film "The Imitation Game" liegt nun mit "Der Sündenfall von Wilmslow" ein weiteres Werk vor, das Abbitte bei dem Mann zu leisten scheint, der trotz seiner gewaltigen Leistungen zu Lebzeiten nicht nur keine Anerkennung fand, sondern sogar einer quälenden physischen Verfolgung ausgesetzt war.

Christoph Mahnel
22.02.2016

 
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Das Buch:

David Lagercrantz: Der Sündenfall von Wilmslow

Gesprochen von Devid Striesow
München: Random House Audio 2016
2 mp3-CDs, 663 Minuten, € 19,99
ISBN 978-3-837-13329-5

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