Hörbücher
Das Ende der Privatsphäre
Die Mittzwanzigerin Mae Holland hatte viel in ihre eigene Ausbildung investiert, doch war ihre Karriere bis dato noch nicht recht ins Rollen gekommen. Ein biederer Job bei den lokalen Stadtwerken entsprach gewiss nicht ihren Erwartungen. Da kommt die Empfehlung von Annie, ihrer ehemaligen Mitbewohnerin aus Studentenzeiten, gerade recht. Mae erhält ein Jobangebot vom "Circle", wo Annie in einer führenden Position bereits eine etablierte Größe ist. Der "Circle" scheint das hippste Unternehmen des ganzen Planeten zu sein, eine Mischung aus Facebook, Google, Apple, Paypal, Twitter und Co., die den Mitarbeitern sämtliche Wünsche erfüllt. Alle denkbaren Serviceleistungen werden Mae kostenfrei zur Verfügung stehen, wenn sie bereit ist, dem "Circle" ihr Leben zu widmen.
Rasch wird Mae klar, dass ihre Tätigkeit im Kundensupport des "Circle" nur ein kleiner Bestandteil ihrer eigentlichen Arbeit ist. Von Mae wird erwartet, sich mit Haut und Haaren in die sozialen Aktivitäten des Unternehmens einzubringen. Anfangs verpasst sie die eine oder andere Veranstaltung, die den Mitarbeitern auf dem Campus des "Circle" in Hülle und Fülle angeboten werden. Die entsprechenden Rüffel durch ihre Vorgesetzten lassen Mae schließlich zur folgsamen Mitarbeiterin mutieren, die ihr analoges Leben sukzessive aufgibt, um vollends in die digitale Welt der sozialen Netzwerke einzutauchen. Mehrere tausend Fragen zu ihren persönlichen Präferenzen beantwortet sie Tag für Tag, postet Kommentare, sendet "Smiles" und "Frowns", um im internen Partizipationsranking aufzusteigen. Schließlich ist ein Vorfall, bei dem Mae durch eine der abertausend Überwachungskameras des "Circle" einer Straftat überführt wird, der Auslöser dafür, dass sie sich einer grenzenlosen Transparenz hingibt. Mae macht - abgesehen von ihren Toilettengängen - ihr komplettes Leben öffentlich. Dass Personen aus ihrem bisherigen Umfeld wie ihre Eltern oder ihr Ex-Freund diesen Schritt nicht gutheißen, kann Mae bereits nicht mehr nachvollziehen.
Der US-amerikanische Schriftsteller Dave Eggers hat mit "Der Circle" einen vielbeachteten Zukunftsroman vorgelegt, der mit voller Macht Diskussionen rund um Wohl und Wehe sozialer Netze und geschützter Daten befeuern wird. Eggers hatte bisher eine große schriftstellerische Vielfalt in seinen Werken an den Tag gelegt und war gewiss noch nicht als Science-Fiction Autor gelistet. Jedoch war "Der Circle" im vergangenen Jahr nach seinem Erscheinen im englischen Original bereits mit Orwells einstigem Zukunftsroman "1984" verglichen worden. Jetzt liegt "Der Circle" auch in der deutschen Übersetzung vor, so dass man hierzulande nun entscheiden kann, inwieweit es sich hierbei denn tatsächlich um Zukunftsvisionen handelt. Doch wird man dabei rasch zum Schluss kommen, dass die Zukunft bereits vor der Tür steht und es nur noch weniger Schritte bedarf, um die Vorgänge rund um Mae und den "Circle" Realität werden zu lassen.
"Der Circle" macht an sehr vielen gelungenen Beispielen den mit der gläsernen Transparenz einhergehenden Widerspruch deutlich. Während die drei Weisen des "Circle" stets die Gutmenschen mimen und ihre Erfindungen, die durch vollkommene Offen- und Zusammenlegung aller Daten ermöglicht werden, als Allheilmittel gegen die Verbrechensbekämpfung preisen, scheitern die Kritiker daran, dieser auf den ersten Blick plausibel erscheinenden Argumentationslinie zu widersprechen. Mae selbst bringt ihre Überzeugung mit den drei Glaubensthesen "Geheimnisse sind Lügen", "Teilen ist heilen" und "Alles Private ist Diebstahl" prägnant zum Ausdruck.
Das vorliegende Hörbuch beinhaltet eine gekürzte Lesung der über 500 Seiten umfassenden Buchvorlage. Auf acht CDs gelingt es Torben Kessler ganz hervorragend, sich in die verschiedenen Charaktere hineinzuversetzen und ihnen ein entsprechendes stimmliches Gesicht zu verleihen. Für Hörbuchkonsumenten, die sich gerne einmal in den Fängen vielfältiger Erzählstränge verzetteln, ist "Der Circle" ein wahres Vergnügen. Die gesamte Geschichte wird zwar in der dritten Person, aber einzig und allein aus der Perspektive Maes erzählt. Dabei möchte man sich als Hörer jedoch gerne so manches Mal diesem hochintelligenten Naivchen in den Weg stellen und ihr die Leviten lesen, da Mae sich viel zu offensichtlich und beinahe sektengleich der Forderung des "Circle" nach uneingeschränkter Transparenz hingibt.
Obgleich die Erzählung Eggers mit seiner omnipräsenten Protagonistin völlig eindimensional erfolgt, obgleich Eggers mit "Der Circle" garantiert keine sprachliche Verzückung bewirkt, obgleich die visionären Produkte des "Circle" wenig originell und bei weitem nicht so raffiniert sind wie beispielsweise diejenigen im kürzlich erschienenen Zukunftsroman "Zero" von Marc Elsberg, obgleich also fast alles gegen Eggers Werk spricht, ist "Der Circle" eine der wichtigsten belletristischen Neuerscheinungen dieses Jahres. Es liefert nämlich sehr einfach gehaltene und leicht verständliche Denkanstöße zu einem zukunftsweisenden Thema. Eggers veranschaulicht perfekt und massenkompatibel, dass die Menschheit in einer ihrer wichtigsten Fragestellungen meilenweit hinterherhinkt: Wie kann der Mensch der ständig wachsenden Datentransparenz und dem beiläufigen Austausch von Informationen überhaupt noch Herr werden, um der Menschheit langfristig eine ihrer wichtigsten Errungenschaften zu erhalten, die Privatsphäre?
Christoph Mahnel
08.09.2014