Hörbücher

Kammerstück im Zugabteil

Cécile, eine attraktive Endvierzigerin im Business-Kostüm, besteigt am einem Montagmorgen den 6-Uhr-41-Zug in Richtung Paris. Sie hat gerade das Wochenende bei den Eltern in ihrem Heimatort Troyes verbracht und ärgert sich, dass sie nicht schon am Sonntagabend nach Hause zu Mann und Kind gefahren ist. Neben ihr ist noch einer der wenigen Plätze im vollbesetzten Frühzug frei. Noch während Cécile sich wünscht, dass dieser Platz von einem gut aussehenden Mann besetzt werden könnte, setzt sich ausgerechnet Philippe Leduc neben sie, der auf dem Weg nach Paris ist, um einen kranken Freund zu besuchen, der im Sterben liegt.

Philippe ist nicht irgendwer. Philippe und Cécile waren vor 27 Jahren ein Paar. Doch leider nahm die Romanze der beiden Zwanzigjährigen damals ein jähes und unschönes Ende. Kein Wunder, dass nun im Zugabteil beide so tun, als würden sie sich nicht kennen. Schweigend verbringen die Ex-Geliebten die eineinhalb Stunden Zugfahrt nebeneinander sitzend; beide wie ein Raubtier auf die Beute wartend, dass der andere den ersten Schritt macht, einfach irgendetwas sagt, sich vielleicht sogar entschuldigt für etwas, das fast drei Jahrzehnte zurückliegt.

Jean-Philippe Blondel, der hierzulande vor einigen Jahren bereits bekannt wurde durch seinen Roman "Zweiundzwanzig", bedient sich des inneren Monologs, um sein kleines Kammerstück, das er in einem Zugabteil auf der Strecke Troyes-Paris spielen lässt, zu erzählen. Abwechselnd befindet man sich als Hörer mal in Céciles Kopf, mal folgt man den Gedanken Philippes. Beide hängen ihren Erinnerungen an jenes folgenschwere Wochenende in London nach, das eine romantische Besiegelung ihrer Liebe hätte sein sollen und das mit so viel Schmerz geendet hat. Fast drei Jahrzehnte später kommen die beiden Endvierziger nicht umhin, sich das eine oder andere Mal zu fragen: Was wäre, wenn …?

Der Stoff, aus dem Blondel kleines Kammerstück ist, ist zwar wenig spektakulär und durchaus alltäglich - wer ist noch nie zufällig jemandem aus seiner Vergangenheit begegnet und wusste nicht, ob er grüßen oder ein Gespräch anfangen sollte? -, doch schafft er es durch den dem Hörer nur langsam klarwerdenden Fauxpas in London, die Spannung aufrechtzuhalten und bis zum Schluss die Frage offen zu lassen: Wird einer der beiden den ersten Schritt tun?

"6 Uhr 41" eignet sich aufgrund der wechselnden inneren Monologe ganz besonders für eine Hörbuchinszenierung mit zwei Sprechern. Mit dem Schauspieler-Ehepaar Andrea Sawatzki und Christian Berkel hat man noch dazu eine Traumbesetzung für diese Produktion gewinnen können. Nicht nur vor der Kamera, sondern auch vor dem Mikrofon haben die beiden bereits erfolgreich zusammengearbeitet, z.B. bei den Lesungen zu Daniel Glattauers Romanen "Gut gegen Nordwind" und "Alle sieben Wellen". Auch bei "6 Uhr 41" verkörpern sie das (Ex-)Liebespaar glaubwürdig und bringen Blondels Roman mit ihrer Inszenierung auf ein anderes Level. Die ungekürzte Lesung, die mit fast vier Stunden gut doppelt so lang ist wie die Zugfahrt, die Cécile und Philippe zurücklegen, eignet sich besonders für die eigene Zugfahrt - in den Urlaub oder zur Arbeit. Denn wer hängt in solchen Situationen nicht auch gerne seinen Gedanken nach und lässt Vergangenes - ob gut oder schlecht - Revue passieren?

Sabine Mahnel
11.08.2014

 
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Das Buch:

Jean-Philippe Blondel: 6 Uhr 41. Aus dem Französischen von Anne Braun

Sprecher: Andrea Sawatzki, Christian Berkel
München: Random House Audio 2014
Spielzeit: 229 Min., € 16,99
ISBN: 978-3-8371-2853-6

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