Hörbücher

Sehr gut gegen Langeweile

Das vorliegende Hörbuch "Gut gegen Nordwind" ist eine Perle auf dem deutschen Hörbuchmarkt, da es einfach völlig anders und ganz besonders ist. Um diese Andersartigkeit und Besonderheit etwas genauer zu hinterfragen, würde Emmi Rothner, die weibliche Protagonistin aus "Gut gegen Nordwind", höchstwahrscheinlich die folgende Form wählen:

1) Was macht "Gut gegen Nordwind" so außergewöhnlich?
2) Was macht "Gut gegen Nordwind" als Hörbuch so außergewöhnlich?
3) Wer oder was ist überhaupt "Gut gegen Nordwind"?

Ihr männlicher Gegenpart namens Leo Leike würde 1) bis 3) in etwa wie folgt beantworten, natürlich per Email:

1) "Gut gegen Nordwind" ist ein Roman, der ausschließlich aus einer Email-Kommunikation zwischen zwei Menschen besteht: Emmi Rothner und Leo Leike.
2) Nur selten erfahren Romanvorlagen durch die Hörbuchfassung eine Steigerung. In "Gut gegen Nordwind" verleihen Andrea Sawatzki und Christian Berkel durch ihre Sprachmelodie und die versiert eingesetzten Tonlagen den virtuellen Emailtexten eine Stimme, fast schon ein Gesicht.
3) Emmi muss bei offenem Fenster schlafen, kann aber bei Nordwind nur schlecht schlafen. Aufgrund von Leos Tipps - natürlich per Email - ist Leo für Emmi  fantastisch "gut gegen Nordwind".

Zur Handlung: Emmi Rothner versucht mehrfach vergeblich per Email an woerter@like.de ein Abonnement beim Like-Verlag zu kündigen, adressiert aber ihre Emails fälschlicherweise an woerter@leike.de. Der Empfänger dieser Emails, Leo Leike, befindet sich in einer Lebenskrise, nachdem seine Dauerfreundin Marlene gerade zu seiner Ex-Freundin geworden ist. Aus der anfänglichen Zufallsbekanntschaft entwickelt sich ein ständiger Email-Verkehr, dem eine Dynamik zu eigen ist, die in eine intensive virtuelle Romanze mündet. Das tatsächliche Leben der beiden gerät dabei mehr oder weniger aus den Fugen: Emmi Rothner ist schließlich verheiratet und gerät immer mehr in einen Strudel, in dem sie sich völlig ihrer irrationalen Emotionalität hingibt. Aber auch Leo, der zunächst noch von Berufs wegen an der Wirkung von Sprache in Emails interessiert ist, kann der Wucht des virtuellen Gebildes nicht immer standhalten und philosophiert bei Email-Verabredungen mit Emmi ob des übermäßigen Genusses französischen Landweins schon einmal über die Erotik von Emails: "Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf."

Man kann sich zu Beginn des Hörbuchs nur schwerlich vorstellen, wie einen das „Setup“ mit zwei ausschließlich per Email kommunizierenden Menschen über knapp fünf Stunden hinweg im Bann halten soll, aber Andrea Sawatzki und Christian Berkel überzeugen den Hörer rasch davon, dass dies sehr wohl möglich ist. Mehr noch, nach einer Weile weiß der Käufer des Hörbuchs, dass er gut daran getan hat, "Gut gegen Nordwind" nicht als Buch erworben zu haben, sondern dass das Hörbuch mit seinen gesprochenen Stimmen viel mehr transportieren kann, als es 224 Seiten bedruckten Papiers jemals gekonnt hätten. Exakt dieses Phänomen wird auch in der Handlung thematisiert: Wie würden die geistigen Ergüsse Emmi Rothners und Leo Leikes denn überhaupt erst klingen, wenn sie von der eigenen Stimme gesprochen und nicht leblos via SMTP und POP3 transportiert wären.

"Gut gegen Nordwind" ist brillant konzipiert und lässt den Hörer nicht nur mit einer Liebesgeschichte zurück, die sowohl tragische als auch amüsante Züge trägt, sondern auch mit einer geballten Nachdenklichkeit über die Besonderheiten moderner Kommunikationswege. Ohne dass Glattauer den Finger erhebt, wird dem Hörer klar, wie fragil Email-Bekanntschaften oder Chatroom-Turteleien sind, da sie tatsächlich überhaupt nicht existent und nur ein Fantasiegebilde sind, das sich mitunter nicht traut, der Realität standhalten zu wollen. Was geschieht mit dem virtuellen Gebilde der "Beziehung", wenn das erste persönliche Treffen stattgefunden hat? Wird es die virtuellen Gefühle bestätigen oder lässt man es aus Angst vor einem Scheitern gar nicht erst dazu kommen und hält stattdessen das künstliche Gebilde aufrecht? Über solche und andere Fragen lassen sich Emmi und Leo 34 Tracks und 288 Minuten lang aus. Werden Sie sich tatsächlich treffen? Kann die Geschichte auf einen wie auch immer gearteten Höhepunkt zusteuern? Wie kann die Email-Romanze überhaupt enden? Lassen Sie sich ein auf die Stimmen Andrea Sawatzkis und Christian Berkels und auf ein beeindruckendes Gedankenexperiment Daniel Glattauers, das allerdings nach 25 Jahren Emails in Deutschland wohl schon mehr Realität denn Fiktion ist.

Christoph Mahnel
11.05.2009

 
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Das Buch:

Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind

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Sprecher: Andrea Sawatzki, Christian Berkel
Hamburg: Hörbuch Hamburg 2008
Spielzeit: 288 Min., € 24,95
ISBN: 978-3-899-03807-1

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