Hörbücher

Jemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen

Ria Nachtmann wird im Alter von zehn Jahren aus ihrer Familie gerissen, ihre Eltern waren von der Führung der Deutschen Demokratischen Republik als Volksverräter erachtet und inhaftiert worden. Dazu kommt für Ria die schmerzhafte Trennung von ihrer Schwester Jolanthe, fortan wächst sie nämlich in einer ideologisch konformen Pflegefamilie in Ost-Berlin auf. Im Jahre 1961 schließlich steht Ria auf eigenen Beinen und darf nach vermeintlich erfolgreicher Kopfwäsche an ihrer Karriere im Osten Deutschlands basteln. Eine Anstellung im Ministerium für Außenhandel an der Seite Alexander Schalck-Golodkowskis eröffnet ihr Einblicke in brisantes Material und geheime Pläne der DDR-Führung. Doch der Werdegang Ria Nachtmanns bleibt auch im Westen nicht unbeobachtet, so hat der Bundesnachrichtendienst bereits seine Fühler nach der jungen Frau ausgestreckt, wohlwissend, dass diese ihrem Land die Tragödie ihrer eigenen Familie noch lange nicht verziehen hat.

Nicht nur die Agenten aus Pullach und Berlin operieren in dieser schicksalsträchtigen Zeit skrupellos mit allen Tricks auf fremden Territorien, auch der KGB hat seine besten Leute ins geteilte Deutschland geschickt, um so manchen Zeitgenossen, der den Plänen der Sowjetunion zuwiderläuft, zu beseitigen. Schließlich findet dieser Tage ein besorgniserregender Aderlass von Ost nach West statt, der DDR scheinen die Menschen auszugehen, um den fragilen Arbeiter- und Bauernstaat am Leben zu erhalten. Obgleich es seitens der obersten Führung anderslautende und gefistelte Erklärungen gibt, werden im Hintergrund gewaltige Anstrengungen unternommen, um den Bau einer Mauer voranzutreiben, die West- und Ost-Berlin trennen soll. Am 13. August 1961 ist es schließlich soweit und Abertausende von Menschen werden über Jahrzehnte ausgesperrt und von ihren Liebsten auf der anderen Seite der Mauer getrennt. Mitten unter ihnen Ria Nachtmann, die eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen hat.

"Die fremde Spionin" lautet der Auftakt einer als Trilogie angekündigten Familiengeschichte um die Protagonistin Ria Nachtmann. Mit Titus Müller steht ein noch relativ junger, aber bereits viel beachteter Autor hinter diesem Projekt. Der in Leipzig geborene Literat hat schon in sehr jungen Jahren erste historische Romane geschrieben und mittlerweile fast 20 Schriftstellerjahre auf dem Buckel. Aus seinen 14 erschienenen Büchern ragt zweifelsohne "Nachtauge" heraus, ein spannungsgeladener Roman über die Bombardierung der Möhnetalsperre durch die britische Luftwaffe als Schlüsselmoment des Zweiten Weltkriegs. Nun versucht sich Titus Müller an einem zentralen Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte. Angekündigt wurde die Spionin-Reihe für die Zeit vom Mauerbau bis zum Fall der Mauer: Drei Bücher zu knapp drei Jahrzehnten geteilten Deutschlands. Für Titus Müller bedeutet diese Trilogie die große Chance, in die Fußstapfen eines Ken Folletts oder Peter Pranges zu treten, die sich mit ihren Romanen sehr gelungen als Geschichtsschreiber der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgetan haben.

Ähnlich wie die beiden Genannten versteht es Titus Müller, Fiktion mit Wirklichkeit zu verweben. Er stellt die zentralen fiktiven Charaktere wie Sorokin, den verzweifelten russischen Spion, oder Ria Nachtmann an die Seite eines jungen Alexander Schalck-Golodkowski, den späteren Chef-Devisenhändler der DDR und Verhandlungspartner von Franz Josef Strauß. Dazu gesellen sich Passagen, in denen mit Walter Ulbricht, Erich Honecker oder John F. Kennedy die Granden der damaligen Weltpolitik zu Wort kommen. Dieser Mix gibt einem das Gefühl, den realen Geschehnissen beizuwohnen, so liefert schließlich auch die Nacht des Mauerbaus den Hintergrund für den emotionalen Höhepunkt in "Die fremde Spionin". Parallel zur Buchausgabe ist bei Random House Audio die vorliegende, leicht gekürzte Hörbuchfassung erschienen. Über knapp zehn Stunden entführt Oliver Brod dabei den gefesselten Hörer in ein sich teilendes Deutschland vor 50 Jahren. Sein gekonnter Vortrag lässt einen hervorragend abtauchen in die Handlung, die als dramatische Familiengeschichte und gleichermaßen spannende Zeitgeschichte daherkommt.

Titus Müller hat mit der Zeichnung der individuellen Schicksale in "Die fremde Spionin" den Charakteren Leben eingehaucht und deren Zerrissenheit in den Mittelpunkt ihres Handelns und Denkens gestellt. Mit der Einbettung in den geschichtlichen Kontext jagt Müller seinen Hörer mit viel Tempo durch eine monumentale deutsch-deutsche Tragödie, für die dieser erste Teil allerdings nur den Anfang bereithält. So bereitet das Ende von "Die fremde Spionin" auch schon mehr als deutlich die schicksalshafte Fortsetzung der Trilogie vor. Rias Sehnsucht nach Familie wird auch im zweiten Teil den großen Gegensatz zu ihren hochgradig rationalen Aufträgen als Spionin bilden. Für den Hörer wird nach dem Genuss des vorliegenden Hörbuchs sicherlich genauso rasch Sehnsucht einsetzen, und zwar nach der Fortsetzung der Trilogie.

Christoph Mahnel 
20.09.2021

 
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Das Buch:

Titus Müller: Die fremde Spionin

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Sprecher: Oliver Brod München: Random House Audio 2021 Spielzeit: 594 Minuten, € 16,00 ISBN: 978-3-8371-5559-4

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