Hörbücher

Das Rechtsverständnis im Bibelgürtel

In Clanton, Mississippi, ist Stuart Kofer ein angesehener Mann, als Polizist sorgt er nämlich für Recht und Ordnung. Da sieht man ihm schon mal nach, dass er sich jedes Wochenende bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen lässt. Doch schlimmer noch stellen sich die Exzesse dar, die Kofer anschließend bei sich zu Hause begeht. Dort leben seine Freundin und deren zwei Kinder, die stets mit großer Furcht der Dinge harren, die sich in aller Regelmäßigkeit nach Kofers Heimkehr ereignen. So auch an jenem schicksalhaften Wochenende, das die Lebensläufe der vier Genannten nachhaltig verändern wird. Seine Freundin Josie Gamble schlägt Kofer dieses Mal besonders brutal zusammen, so dass sie bewusstlos zusammenbricht. Die beiden Kinder glauben, dass ihre Mutter tot sei. Doch bevor sich Kofer auch noch über den sechzehnjährigen Drew und seine jüngere Schwester Kiera hermachen kann, schläft Kofer rotzbesoffen ein. Drew nimmt sich schließlich eine der frei in Kofers Haus rumliegenden Waffen, hält sie ihm an den Kopf und drückt ab.

Das Geschrei in der bibeltreuen Kleinstadt ist riesig. Hier wird bevorzugt noch nach alter Sitte Recht gesprochen, bevor die offiziell dafür verantwortlichen Instanzen tätig werden. Somit ist der Bedarf, einen Pflichtverteidiger für Drew zu organisieren, der sich auch um dessen Betreuung und Sicherheit kümmert, zeitlich extrem kritisch. Jake Brigance ist hierfür in Clanton die allererste Wahl. Dass er den Fall trotz aller Zweifel und Ängste vor möglichen Folgen abweisen kann, ist somit keine wirkliche Option. Dabei hat Brigance gerade erst wieder sein Leben in geordnete Bahnen gelenkt, nachdem ihm ein ähnlich gelagerter Fall jahrelang Angst vor Gewaltanschlägen durch den Ku-Klux-Klan beschert hatte. Für die Bevölkerung ist die Sache klar: Drew gehört für sein Vergehen in den Todestrakt! Doch bevor Brigance sich richtig in den Fall einarbeiten kann, gerät das Leben seiner Familie schon wieder in allerhöchste Gefahr.

Die Zutaten zu diesem Justizkrimi lassen schon erahnen, welcher Autor hier am Werk war. Natürlich ist es John Grisham, der für "Der Polizist" verantwortlich zeichnet. Sein neuester Roman knüpft an alte Zeiten und ein Werk an, das für den Beginn seines Schaffens steht. Bereits in seinem Debütroman "Die Jury" aus dem Jahre 1989 ließ er einst Jake Brigance Carl Lee Hailey verteidigen, der die Vergewaltiger seiner Tochter ermordet hatte. Auch in "Die Erbin", einem weiteren Grisham-Roman, war Brigance in zentraler Rolle tätig, so dass man nun von ihm schon als einem Serienhelden John Grishams sprechen kann. Den Plot von "Der Polizist" hat der Altmeister des Justiz-Thrillers in den neunziger Jahren angesiedelt. Parallel zur knapp 700 Seiten umfassenden Buchausgabe hat Random House die vorliegende Hörbuchausgabe in leicht gekürzter Fassung herausgebracht. Die über 21 Stunden dauernde Lesung wurde natürlich wieder von Charles Brauer übernommen, der als der deutsche Haus- und Hofvorleser von Grishams Romanen seit etlichen Jahren etabliert ist.

Die Szenerie in "Der Polizist" ist als klassisch im Grisham’schen Sinne zu bezeichnen: Ein schwerwiegendes Verbrechen, ja sogar mehrere miteinander verkettete, dazu ein konservatives Rechtsverständnis in einer Südstaaten-Provinz und ein Mann des Gesetzes, der diesen Fall der Gerechtigkeit zuliebe, aber entgegen aller Vernunft bis zum bitteren Ende vorantreibt. John Grisham hat in der sehr umfänglichen Geschichte viele Themen adressiert, die einem tiefergehende Einblicke in das amerikanische Rechtssystem und dessen Umfeld geben. Brigance beispielsweise begeht als Pflichtverteidiger mit der Übernahme des Falles quasi finanziellen Selbstmord, da die Unkostenerstattung für seine Arbeit qua Gesetz mit schlappen tausend Dollar gedeckelt ist. So führt Grisham seine Leser und Hörer Schritt für Schritt durch die verschiedenen Stufen eines Prozesses und lässt einen unterhaltsam teilhaben an zahlreichen Eigenheiten und Absurditäten der amerikanischen Justiz. Darüber hinaus bezieht er mit Drew Gambles Situation eindeutig Position zur Todesstrafe und lässt zwar nicht primär, aber immer wieder an einigen Stellen durchblicken, welch riesige Kluft es in der amerikanischen Gesellschaft zwischen Schwarz und Weiß sowie Arm und Reich gibt.

Die mehr als 21 Stunden vergehen nicht unbedingt an jeder Stelle wie im Fluge, doch schafft es Charles Brauer als Sprecher, seine Hörer auch über die eine oder andere zähe Stelle zu führen, um am Ende zur Belohnung einige fulminante Schlussstunden mit Jake Brigance in Bestform erleben zu dürfen. Während John Grisham dabei ist, das deutsche Renteneintrittsalter zu erreichen, hat seine deutsche Stimme Charles Brauer die Mitte seines neunzigsten Lebensjahrzehnts bereits überschritten. Somit sollten sich alle Fans Grishams, die sich seit nunmehr drei Jahrzehnten beginnend mit "Die Jury" und "Die Firma" alle ein oder zwei Jahre begeistert einer Neuerscheinung widmen dürfen, bewusst sein, dass diese Zeit auch irgendwann mal ein Ende finden wird, im Hinblick auf das Duo Grisham/Brauer leider wohl eher früher als später. Insofern ist "Der Polizist" trotz einiger Längen gerade in der ersten Halbzeit eine wunderbare Möglichkeit, sich an Grishams ureigensten Stärken zu erfreuen und diesen "Klassiker" aus dem Opus Grishams zu genießen.

Christoph Mahnel 
12.07.2021

 
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Das Buch:

John Grisham: Der Polizist. Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter, Imke Walsh-Araya, Kristiana Dorn-Ruhl

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Sprecher: Charles Brauer München: Random House Audio 2021 Spielzeit: 1270 Min., € 24,00 ISBN: 978-3-8371-5539-6

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