Hörbücher
Ringen um Unabhängigkeit
Köln, Ende der 1920er-Jahre. Gilgi Kron ist Anfang 20, als sie erfährt, dass sie von ihren Eltern, den Krons, adoptiert wurde. Die selbstbewusste junge Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt und als Stenotypistin ihr eigenes Geld verdient, nimmt diese Nachricht zum Anlass, der Enge der elterlichen Welt zu entfliehen. Sie will um jeden Preis unabhängig sein und absolviert abends nach Feierabend noch Sprachkurse, um beruflich voranzukommen. Ihren zudringlichen Chef, der so alt ist, dass er ihr Vater sein könnte, erträgt sie mit Engelsgeduld, weiß sie doch, dass sie es sich nicht leisten kann, ihren Job zu verlieren. Schon gar nicht in Zeiten, in denen die Zahl derer, die keine Arbeit haben, täglich größer wird.
Die patente junge Frau, die eigentlich Gisela heißt, scheint auf einem guten Weg in ihre eigene Unabhängigkeit zu sein, als sie eines Tages den älteren Bohemien Martin trifft, der sie all ihre Grundsätze über den Haufen werfen lässt. Sie gibt ihre Arbeit, ihre Sprachkurse und damit ihr unabhängiges Leben auf und zieht bei dem leichtlebigen Schriftsteller, der von der Hand in den Mund lebt, ein. Im Taumel der Liebe sieht Gilgi zunächst nicht, dass sich ihr Leben in eine Richtung entwickelt, die sie selbst nie wollte. Erst als sie schwanger wird, scheint ihr wahres Ich wieder Oberhand zu gewinnen.
Irmgard Keuns Debütroman aus dem Jahre 1931 spiegelt schonungslos die Realität von jungen Frauen am Ende der Weimarer Republik wider: getrieben von dem Willen, unabhängig zu sein, selbst zu arbeiten, und dennoch gefangen in den Moralvorstellungen einer Gesellschaft, die Frauen als Menschen zweiter Klasse wahrnimmt. Keun, selbst alles andere als angepasst und konventionell, gibt den Frauen ihrer Zeit eine Stimme - und eine recht freche mitunter - und wird damit - wenn auch verspätet - bei ihrer Wiederentdeckung Ende der 1970er-Jahre zur Stimme der Frauenbewegung.
Fast 90 Jahre nach Erscheinen von "Gilgi - eine von uns" erscheint nun erstmals eine Hörbuchfassung, die ungekürzt von Camilla Renschke eingelesen wurde. Die Schauspielerin und Sprecherin passt mit ihrer jugendlichen Stimme perfekt zu der Figur Gilgi und bringt ihre frechen und vor Selbstbewusstsein nur so triefenden Äußerungen absolut glaubwürdig ins Ohr des Hörers.
"Gilgi" und auch die folgenden Romane Keuns, die zeitweise im Exil lebte, als ihre Bücher in Nazi-Deutschland verboten wurden, sind gleichzeitig lebhafte Beispiele für die politische und gesellschaftliche Lage der Weimarer Republik und der nachfolgenden Diktatur- und Kriegsjahre sowie Vorreiter für Literatur über starke Frauencharaktere.
Sabine Mahnel
23.04.2019