Hörbücher
Rache auf französische Art
Paris im Jahre 1927: Der renommierte Pariser Bankier Marcel Péricourt ist tot, Madeleine, seine Tochter und Alleinerbin des Familienimperiums, steht privat wie beruflich vor einem Scherbenhaufen. Ihr Vater hatte die Bank als Patriarch geführt und seine Tochter zu Lebzeiten dort nie gewähren lassen noch ihr die notwendigen Kompetenzen übertragen. Glücklicherweise fristet Madeleines Ex-Mann sein Dasein bis auf Weiteres im Gefängnis und fällt ihr nicht mehr zu Last. Dafür leidet Madeleine umso mehr unter den Folgen des schweren Unfalls ihres siebenjährigen Sohns Paul, der am Tag der Beerdigung seines Opas aus dem Fenster gestürzt war und seitdem querschnittsgelähmt ist. In der Bank versucht Gustave Joubert, der Prokurist, dem Madeleine einst einen sehr deutlichen Korb verpasst hatte, die Geschäfte an sich zu reißen. Madeleines Onkel Charles ist zwar politisch ambitioniert, jedoch verschwenderisch und damit genauso wenig geschäftstüchtig wie ihr Liebhaber, der von den Musen geküsste André.
Madeleine fasst einen Plan, den sie trotz der widrigen Umstände und turbulenten Zeiten mit Weltwirtschafts- und Bankenkrise konsequent exekutieren wird. Sie hat es satt, weiter für die Bittsteller und Neider zu sorgen, die sie wie ums Licht schwirrende Motten umkreisen. Das Geflecht aus Intrigen, Eitel- und Hinterlistigkeiten möchte Madeleine endlich zerschlagen und einen ihren Interessen genehmen Ausgang herbeiführen. Dazu nutzt sie sogar die Dienste eines Detektivs, der sie bei der Umsetzung ihres komplexen Racheplans unterstützt. Wird es Madeleine gelingen, in einer Zeit vor rund 90 Jahren, in der Frauen gerade in der Berufswelt nur wenig zugestanden wurde, die Zügel in der Hand zu halten, um auf glorreichere Zeiten zuzusteuern?
"Die Farben des Feuers" lautet der etwas ungelenke Titel dieses französischen Familienepos aus der Feder von Pierre Lemaitre. Seit seinem großen Erfolg "Wir sehen uns dort oben", für den er anno 2013 den höchsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, verliehen bekam, reitet der gebürtige Pariser auf einer Welle des Erfolgs. Dabei produziert er als versierter Wandler zwischen den Genres mal einen Krimi und mal respektable Literatur. Besagter preisgekrönter Schelmenroman bildete den Auftakt einer Trilogie, der "Trilogie de l'entre deux-guerres", einem Romandreiklang also, der zwischen den beiden Weltkriegen spielt. Nachdem das erste Werk von zwei Veteranen des Ersten Weltkrieges handelte, operiert der vorliegende Mittelteil zwischen 1927 und 1933, wo erste Anzeichen des nahenden Weltenbrandes schon spürbar werden.
Lemaitre hat in "Die Farben des Feuers" auch einige Charaktere aus "Wir sehen uns dort oben" verarbeitet, wie z.B. Édouard, den Sohn des verstorbenen Patriarchen und einen der beiden Hauptdarsteller des ersten Teils oder Henri d'Aulnay-Pradelle, den fiesen Offizier, der als Ex-Mann Madeleines hinter schwedischen Gardinen weilt. Parallel zur Buchausgabe bei Klett-Cotta mit knapp 500 vollgepackten Seiten hat Der Audio Verlag eine über vierzehneinhalb Stunden dauernde, ungekürzte Lesung produziert. Angesichts der vielen Handlungsstränge und deren Verflechtungen ineinander ist die Entscheidung für eine vollständige Lesung absolut nachvollziehbar, hätte man doch gar nicht gewusst, welche Passagen man für eine Kürzung hätte herausschneiden können. Darüber hinaus sorgt mit Torben Kessler ein mit allen Wassern gewaschener Hörbuchsprecher für einen gelungenen Vortrag, der "Die Farben des Feuers" zu einem Hörerlebnis werden lässt.
Dass Lemaitre ein außergewöhnlicher Schriftsteller ist, zeigt allein ein Blick auf sein breitgefächertes Portfolio: Krimis, Epen, Melodramen, Thriller, Historisches und so weiter und so fort. Im vorliegenden Werk hat er darüber hinaus an der Stilschraube gedreht. So kommt er mit einer sehr ungewöhnlichen, weil auf antik getrimmten Sprache daher, an die man sich erst einmal gewöhnen muss. Mit seiner hin und wieder angewendeten direkten Ansprache nimmt er Leser und Hörer virtuell in den Arm, ein ebenfalls nicht alltägliches Vorgehen. Lemaitre schafft es, einen mit den Charakteren mitfühlen zu lassen: Man hofft, man trauert, man freut sich, man leidet. Er hat authentische Figuren geschaffen, in eine Zeit der Umwälzungen verpflanzt und eine spannende Geschichte um sie herum kreiert. Man darf gespannt sein, was Pierre Lemaitre sich für den Abschluss seiner "Zwischenkriegstrilogie" einfallen lassen wird.
Christoph Mahnel
01.04.2019