Hörbücher
Mitreißende Erzählkunst über das, was geht, und das, was kommt
Mit "Archipel" gelang Inger-Maria Mahlke eines der ganz großen Lese-/Hörhighlights des letzten Jahres. Sie wurde für diesen Roman mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Aus dem Kommentar der Jury heißt es: "Es ist der Zyklus des Privaten, den Inger-Maria Mahlke auf grandiose Weise mit dem Politischen verknüpft. Und so blättert man durch hundert Jahre wie durch ein Album voll schmerzhaft schöner und genauer Bilder." Also, kaufen Sie das Buch, am besten in einer auditiven Ausgabe. Mit ihren Lesungen berührt Sprecherin Eva Gosciejewicz jeden Zuhörer im tiefsten Herzen. Ihr muss man lauschen bis zur letzten Spielsekunde. Definitiv die reinste Verführung, wenn die deutsche Schauspielerin am Mikrofon steht. Ihre Performance ist genauso einzigartig schön wie die Handlung.
"Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten. In La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte." So fängt es an. Und mit Rosa, die zurückkehrt auf die Insel und in das heruntergewirtschaftete Haus der vormals einflussreichen Bernadottes. Rosa sucht. Was, weiß sie nicht genau. Doch für eine Weile sieht es so aus, als könnte sie es im Altenheim von La Laguna finden. Ausgerechnet dort, wo Rosas Großvater Julio noch mit über 90 Jahren den Posten des Pförtners innehat. Julio war Kurier im Bürgerkrieg, auf Seiten der Republikaner, war Gefangener der Faschisten, floh und kam wieder. Heute hütet er die letzte Lebenspforte der Alten von der Insel.
Julio ist nicht der einzige der Familie mit einem schweren Los. Scheitern, das kann die Familie. Rosas Vater Felipe Bernadotte schlägt im Club seine Zeit tot. Felipe, der sich mit den Dämonen seiner familiären Vergangenheit herumschlägt, ist gleich mehrfach gescheitert. Als Historiker an der Universität, dessen Tun und Lassen ganz der Demontage seiner eigenen, franquistisch kontaminierten adligen Herkunftsfamilie galt, genauso wie in seiner romantischen Zwischenphase nach dem Abschied von der Universitätskarriere. Felipe als einfacher Bauer: ein einziges Desaster. Die Kartoffeln, das Gemüse, nichts wollte ihm, dem Möchtegern-Agrarier, gelingen. Seit seine Frau Ana als Regionalpolitikerin der Konservativen Partei "große Politik" macht, frönt Felipe seinem Brandy-befeuerten Zynismus.
Der Skandal um das Spekulationsobjekt San Borondón kommt ihm da gerade recht. An einer flacheren Stelle des Atlantiks, keine 20 Seemeilen entfernt, soll eine künstliche Insel entstehen, das Investitionsvorhaben eines US-Konsortiums namens Leicesters Legacy. Das Parlament in Madrid hat das Projekt bereits bewilligt, die Menschen sind alarmiert. Obwohl Rosas Mutter Ana gegen das Projekt votiert hatte, wird ihre Lage nach dem mysteriösen Unfalltod von Andrés, dem Sprecher für Infrastruktur der Regionaladministration, immer heikler. Gegen sie läuft ein Ermittlungsverfahren, die Pressemeute lauert schon ...
Poesie, an die (fast) nichts heranreicht - Inger-Maria Mahlke schreibt Geschichten, deren Leuchtkraft alles zu überstrahlen vermag und deren sprachliche Wucht einen glatt umhaut. "Archipel" macht ganz schwindelig vor schönstem Hörglück und ob der überwältigenden Emotionen über knapp 15 Stunden lang. Die deutsche Autorin ist ein Ausnahmetalent, deren Erzählkunst man ab dem ersten Satz mit allen Sinnen erliegt, ähnlich wie Eva Gosciejewicz als Sprecherin. Sie macht einmal mehr einen überragenden Job. Ihre Lesungen zeugen von einer Weltklassequalität. Sie besitzen eine ungeheure Sogwirkung. Diese nehmen einen ab der ersten Spielsekunde gefangen. Über viele, viele Stunden lang vergisst man über solch grandiosestes Kino für die Ohren die Welt um sich herum. Absolut zum Niederknien!
"Archipel" geht zu den Werken, die man unbedingt mindestens einmal in seinem Leben gelesen bzw. gehört haben muss. Mit diesem Juwel erfährt man Literatur auf höchstem Niveau. Man verliert sich vollkommen in Inger-Maria Mahlkes Worten und in der betörenden Stimme von Eva Gosciejewicz. Ihren Lesungen zu widerstehen, ist definitiv unmöglich. Ohne jeden Zweifel: Ein bildreicheres sowie seelenvolleres Hörerlebnis ist von größter Seltenheit.
Susann Fleischer
04.02.2019