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Wider das Vergessen

Der Slowake Ludwig Eisenberg wurde im April 1942 nach Auschwitz deportiert. Angesichts seiner knapp drei Jahre vor Ort bis zur Befreiung des Konzentrationslagers im Januar 1945 kommt es einem Wunder gleich, dass Eisenberg, der sich später in Lale Sokolov umbenannte, diesen Ort des millionenfachen Todes überleben sollte. Möglich machten ihm dies zahlreiche glückliche Zufälle, insbesondere der Umstand, dass er in Auschwitz als Tätowierer eingesetzt werden sollte. Lale Sokolov versah alle Häftlinge nach deren Eintreffen im Konzentrationslager mit einer fünfstelligen Nummer im Arm, womit aus Menschen mit Würde und einem eigenen Namen schlichte Nummern wurden. Im Juli 1942 tätowierte Sokolov einer jungen Frau die Ziffern 3-4-9-0-2 in ihren dünnen Arm und verliebte sich dabei Hals über Kopf in sie. Gita war ihr Name und von diesem Moment an der beste Grund für Lale, jeden Tag meistern und überleben zu wollen, um eines Tages mit Gita als freier Mann seine und ihre Liebe ausleben zu können.

Tatsächlich gelang es beiden, einem der menschenverachtendsten Orte der Weltgeschichte zu trotzen. Nach Kriegsende hatten sie sich nur kurz aus den Augen verloren, bevor ein weiterer Zufall sie wieder zueinander führte. Es sollte für die beiden fortan wie in einem Märchen verlaufen, da sie glücklich bis an ihr Lebensende zusammen sein durften. Ab dem Jahre 1948 hatten sie ihren Lebensmittelpunkt nach Australien verlegt, bis zu Gitas Tod im Jahre 2003. Erst mit ihrem Ableben öffnete sich Lale Sokolov wieder und war bereit, über seine Vergangenheit und Auschwitz zu sprechen. Er vertraute sich Heather Morris an, einer neuseeländischen Drehbuchautorin und Bekannten seiner Familie. Über drei Jahre hinweg führten die beiden intensive Gespräche, doch Lale hatte es eilig, denn er wollte seiner Gita folgen, was er schließlich im Jahre 2006 wahrmachte, als er im Alter von 90 Jahren verstarb.

"Der Tätowierer von Auschwitz" lautet der naheliegende Titel von Heather Morris´ Lebensbeschreibung des Lale Sokolov. In Romanform und dominiert von Dialogen hat sie die wahre Geschichte des Mannes inszeniert, der Tag für Tag durch seine Arbeit an der Todesrampe Menschen zu Nummern degradieren sollte und dabei stets um sein eigenes Leben fürchten musste. Insbesondere wenn ihm wieder einmal Josef Mengele gegenüberstand und mit seinen furchteinflößenden Augen zu verstehen gab, dass er gerne Lale als sein nächstes Versuchskaninchen in Anspruch nehmen wollte. Mit viel Glück und ein wenig Chuzpe konnte sich Lale um die unendlich vielen Fettnäpfchen des Todes herum lavieren. Dass Lale dafür das eine oder andere Mal seine moralischen Kompetenzen überschritt und sich mit Geld und Schmuck anderer Privilegien erwarb, ist ob des menschlichen Überlebenswillens mehr als verständlich. Doch aus genau diesem Grund schwieg er mehr als 58 Jahre lang über seine Zeit als Tätowierer von Auschwitz. Zu groß war die Angst, als möglicher Kollaborateur der Nazis nachträglich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Erst nach dem Tod seiner Frau hatte er nichts mehr zu verlieren und ließ seine Geschichte für die Nachwelt festhalten.

Aufgrund seines Ausmaßes erscheint der Holocaust für menschliche Wesen oftmals unbegreiflich; zu fassen bekommt man die Tragik und Ungeheuerlichkeit dieses Wahnsinns am eindringlichsten durch Einzelschicksale. Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Zahl neuer Erlebnisberichte aus dieser Zeit immer überschaubarer. Insofern stellen die Geschichte des Lale Sokolov und das Erscheinen des vorliegenden Buchs von Heather Morris, die sich einige Jahre Zeit dafür gelassen hat, eine kleine Sensation dar. Da Verleger ein Näschen für die Kraft eines solchen Werkes haben, sind mit dem Piper Verlag und Osterwold Audio gleich zwei Verlage an den Start gegangen, um zeitgleich eine Buch- und eine Hörbuchausgabe auf den Markt zu bringen. Letztere wurde als ungekürzte, über sieben Stunden dauernde Lesung auf zwei mp3-CDs ausgeliefert. Am Mikrofon bringt Julian Mehne als Sprecher die Emotionen und Ängste mit einem feinen Gespür für die jeweilige Situation gekonnt rüber.

Werke wie "Der Tätowierer von Auschwitz" oder ähnlich gelagerte Erlebnisberichte haben dieser Tage eine sehr große Bedeutung. Sie haben das Potential, vielen Krakeelern, die ihre unreifen Gedanken im anonymen Schatten kurzgeschorener Schädel hinausposaunen, deutlich zu machen, wohin ihre Parolen vor 80, 90 Jahren schon einmal geführt haben, an den Abgrund der Menschheit nämlich und darüber hinaus. Literarisch stellt man sich beim Hören der Geschichte des Lale Sokolov mitunter die Frage, ob eine andere Darstellungsform, vielleicht etwas dokumentarischer und weniger interaktiv, eventuell eindringlicher gewesen wäre. Doch sollte man Heather Morris Dank sagen, dass sie Lales unglaubliche Erfahrungen in Auschwitz protokolliert und aufgearbeitet hat. "Wider das Vergessen" lautet die schlichte, aber alles überragende Essenz dieser Geschichte.

Christoph Mahnel
27.08.2018

 
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Das Buch:

Heather Morris: Der Tätowierer von Auschwitz - Die wahre Geschichte des Lale Sokolov. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke

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Sprecher: Julian Mehne
Hamburg: Osterwold audio 2018
Spielzeit: 439 Min., € 18,00
ISBN: 978-3-86952-409-2

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