Hörbücher
Gründung und Niedergang des Dorfes Macondo
Als der Kolumbianer Gabriel García Márquez im Jahre 1967 seinen vierten Roman zunächst mit einer Auflage von 8.000 Exemplaren in Argentinien veröffentlichte, ahnte noch keiner, dass dieser Roman sein großer Durchbruch sein und man ihn 50 Jahre später als einen modernen Klassiker bezeichnen würde. Nicht zuletzt war "Hundert Jahre Einsamkeit" auch nicht unwesentlich verantwortlich dafür, dass García Márquez 1982 den Literaturnobelpreis erhielt. Im Jahre 2017 jährt sich nicht nur das Erscheinen des Romans, man feiert auch den 90. Geburtstag des vor drei Jahren verstorbenen kolumbianischen Schriftstellers. Anlässlich dieser beiden Jubiläen wurde dieser Jahrhundertroman nicht nur neu ins Deutsche übersetzt, es gibt auch erstmalig ein Hörbuch, das ungekürzt von Ulrich Noethen eingelesen wurde.
García Márquez zeichnet in seinem wortgewaltigen Roman, der Realität, Traum und das Phantastische oft verschmelzen lässt, die Geschichte des fiktiven Dorfes Macondo, das inmitten von Sümpfen, Urwald und Sierra liegt und wie eine Oase der Unschuldigkeit und des Neuanfangs wirkt. Eng mit der Geschichte dieses Dorfes ist die Familiengeschichte der Buendías verknüpft. Vom Gründer des Dorfes, José Arcadio Buendía, bis zu seinem Ur-Ur-Urenkel und damit auch dem Niedergang Macondos reicht die Geschichte, die damit beginnt, dass der Stammvater der Buendías, der einen Mord begangen hat, vor dem Geist des von ihm Ermordeten flüchtet und einen geeigneten Platz für die Neugründung eines Dorfes sucht.
Die folgende Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines Dorfes und einer Familie, sondern auch die Geschichte Kolumbiens bzw. Südamerikas. Bürgerkrieg, Bau der Eisenbahn und Ansiedlung der United Fruit Company - all dies hinterlässt Spuren bei den Buendías und den anderen Einwohnern des Dorfes.
García Márquez´ wortgewaltiger und mitunter auch derber Stil, die ständigen Vor- und Rückgriffe in der Geschichte und die Verschmelzung von Wirklichkeit und Traum, die der magische Realismus als Kunstform mit sich bringt, sind nicht nur die prägendsten Merkmale des Romans, sie sind für den einen oder anderen sicherlich auch sehr gewöhnungsbedürftig. Gerade bei einem Hörbuch, bei dem man nicht mal eben zurückblättern und nochmal nachlesen kann, verlangen die Vor- und Rückgriffe dem Hörer alles an Aufmerksamkeit ab, das er aufbieten kann. Ebenso wenig zuträglich zum besseren Verständnis und dem Sich-Einfinden in die Geschichte sind die immer gleichen Namen; seien sie aus Tradition oder als bewusstes Stilmittel eingesetzt - nach einer Weile verschwimmen beim Hörer nicht nur Traum und Wirklichkeit, sondern auch sämtliche Protagonisten zu einer einzigen Buendías-Person. Um dieser Not zu entkommen, hilft nur noch die Recherche im Internet, wo sich der rettende Stammbaum der Familie Buendía zum Glück schnell finden lässt.
Lobenswert ist wie immer der Vortrag von Ulrich Noethen, der den Hörer mit sonorer, aber sehr ausdrucksstarker Stimme und sehr guter Aussprache über die rund 1.000 Minuten trägt und ihn selbst bei totaler Orientierungslosigkeit bei der Stange zu halten weiß.
Nicht nur, dass dieses Hörbuch eine Premiere für den modernen Klassiker darstellt, der bisher noch nicht vertont worden war, es basiert gleichzeitig auch auf einer Neuübersetzung von "Hundert Jahre Einsamkeit", die dieser Tage auch in Buchform erschienen ist. 1970 war die erste deutsche Fassung, übersetzt von Curt Meyer-Clason, erschienen. Knapp 50 Jahre später hat sich die García-Márquez-Spezialistin Dagmar Ploetz an eine Neuübersetzung gewagt. Dabei hat sie zunächst unabhängig von Meyer-Clasons Übersetzung, die heute in Wortwahl und Ausschweifung manchem etwas schwülstig und altertümlich vorkommen mag, ihre neue Version angefertigt und diese erst im Nachgang mit Meyer-Clasons verglichen. Dabei habe sie, wenn sie seine Formulierungen besser fand, ihre eigenen sogar revidiert und sich für die Lösung ihres Vorgängers entschieden. Wer sich "Hundert Jahre Einsamkeit" mit dieser Hörbuchfassung oder auch der neuen Buchfassung jedoch zum ersten Mal zu Gemüte führt, dem werden die neuen Formulierungen und die Änderungen in der Übersetzung natürlich nicht auffallen. Alte García-Márquez-Hasen können beim Vergleich der beiden Fassungen allerdings kleinere und auch größere Veränderungen feststellen.
"Hundert Jahre Einsamkeit" ist mit Sicherheit eines dieser Bücher, das man - hat man Gefallen an der Geschichte gefunden - durchaus mehr als nur einmal hören oder lesen wird. Allein die große Anzahl an Protagonisten und die Komplexität der Geschichte verlangen nach einer zweiten Lektüre. Wer García Márquez´ Roman zur Abwechslung einmal vorgelesen bekommen möchte - und das auch noch meisterhaft - sollte ohne Umschweife zum Hörbuch-Debüt von "Hundert Jahre Einsamkeit" mit Ulrich Noethen greifen.
Sabine Mahnel
31.07.2017