Hörbücher
Zwischen Fiktion und Realität
Tonio Kröger, Sohn des Getreidegroßhändlers Konsul Kröger und seiner südländischen Frau, ist ein schüchterner, Geige spielender Junge, der gerne Gedichte schreibt und seinen Freund Hans Hansen, blond, blauäugig, sportlich und hübsch, für seine unkomplizierte Art und all das bewundert, was Tonio selbst nicht ist und nicht kann. Auch als Tonio längst erwachsen ist und als Schriftsteller große Erfolge feiern kann, hadert er immer noch mit sich und seinem Schicksal als Künstler. Er ist inzwischen von Lübeck nach München gezogen, doch zieht es ihn als erwachsener Mann wieder in den Norden. Er unternimmt eine Reise in seine Heimatstadt und nach Dänemark. Dort trifft er auf einem Ball auf ein Paar, das in ihm Erinnerungen an seinen Jugendfreund Hans Hansen und seine erste Liebe Inge Holm weckt, in die er sich einst in der Tanzstunde verliebt hat.
Die Künstlernovelle "Tonio Kröger", erschienen 1903 kurz nach "Die Buddenbrooks", gehört zum Frühwerk Thomas Manns und ist neben "Tod in Venedig" wohl eine seiner bekanntesten Novellen. Wie auch schon in "Die Buddenbrooks" verarbeitet Mann in "Tonio Kröger" viele Aspekte seiner eigenen Biografie und das Gefühl der Zerrissenheit, das er als Sohn aus großbürgerlichem Hause mit künstlerischen Neigungen selbst gut kennt. So wie die Figur des Christian Buddenbrook viele Züge Thomas Manns enthält, ist auch Tonio Kröger ein Abbild seines Erschaffers. Literaturwissenschaftler haben im Laufe der Jahrzehnte etliche Romanfiguren Thomas Manns realen Personen aus seinem Umfeld und der Lübecker Gesellschaft zuordnen können.
Einzig die hübsche, blonde Inge aus "Tonio Kröger" scheint kein Pendant in der Realität zu haben. Dies hat den Hörspielautor und Hörfunkdirektor des Hessischen Rundfunks Heinz Sommer zu der von ihm ersonnenen Rahmenhandlung für sein Hörspiel zu "Tonio Kröger" inspiriert. Sommers Hörspielfassung bewegt sich nämlich auf insgesamt drei Ebenen: Die erste Ebene ist die der Rahmenhandlung, die sich 1954 in einem Schweizer Grandhotel abspielt. Dr. Ingeborg Lüdersen, das von Sommer erfundene Pendant zu Inge Holm aus der Novelle, besucht eine Lesung des fast 80-jährigen, wieder nach Europa zurückgekehrten Thomas Mann, der auf einer seiner seltenen und zugleich auch eine seiner letzten Lesungen "Tonio Kröger" zum Besten gibt.
Die Originallesung von Thomas Mann aus dem Jahr 1954 bildet die zweite Ebene. Seine Stimme fungiert quasi als Erzählerstimme für die dritte Ebene, nämlich die Novellenhandlung selbst, die u. a. von den Schauspielern Sabin Trambea, Simon Jensen, Jördis Triebel und Sina Martens in Szene gesetzt wird. Die Novellenhandlung und die Originallesung Manns werden immer wieder durchdrungen von den Gedanken und Einwürfen der ebenfalls in die Jahre gekommenen und in Erinnerungen schwelgenden Ingeborg Lüdersen, gespielt von Senta Berger. Mit ihren Gedanken und Monologen liefert sie eine Interpretation der Novelle, stellt Bezüge zu Manns Biografie her, plaudert gewissermaßen aus dem Nähkästchen und präsentiert dem Hörer auf diese Weise innerhalb der Fiktion des Hörspiels Fakten und Forschungsergebnisse aus der Realität, auch wenn sie selbst keine der real existierenden Figuren ist.
Mit dieser unter der Regie von Leonhard Koppelmann vom Hessischen Rundfunk produzierten Hörspielfassung wurde Manns Künstlernovelle erstmals in das Genre des Hörspiels überführt. Und sogleich ist mit dieser ersten Hörspielfassung ein ganz großer Wurf gelungen, der das Herz eines jeden Literaturfans und Thomas-Mann-Begeisterten höher schlagen lässt. So viele Faktoren sind es, die diese vier Silberlinge und das umfassende Booklet zu einem Genuss werden lassen: die geniale Konstruktion des Hörspiels aus verschiedenen Ebenen von Realität und Fiktion, die hochkarätige Besetzung und die Ausstattung mit einer zusätzlichen CD, auf der die gesamte Hörspielmusik nochmals separat zu finden ist.
Das Hörspieldebüt der über 100 Jahre alten Novelle ist mit dieser aktuellen Produktion vollends gelungen. Heinz Sommer und Leonhard Koppelmann haben bei ihrer Version von "Tonio Kröger" ebenso wie Thomas Mann die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lassen bzw. die beiden Welten geschickt miteinander verwoben und dem Hörer dabei so viel mehr gegeben - Information, Interpretation und Musik - als ein Leser bei der Lektüre der Novelle erwarten kann.
Sabine Mahnel
03.07.2017