Bildbände

Impulse der Individualisten

Wer wagt's der mexikanischen Malerin Frida Kahlo den weltweiten Ruhm streitig zu machen? Frida sitzt im Olymp der Kunst des 20. Jahrhunderts. Einiges und Einige halfen ihr, sich als Künstlerin der Künstlerinnen des Jahrhunderts zu inthronisieren. Sicher zum Gefallen der Leidensgeplagten und Leidenschaftlichen, die soviel Glück im Unglück hatte. Wie auch Natalija Gontscharowa. Die Russin war, vor der Kahlo, die Kahlo Rußlands. Hineingestoßen und gewachsen in eine vielfach prekäre Zwischenzeit der russischen Gesellschaft, war Gontscharowa die Geniale. Sie war die russische Künstlerin, die der Kunst Neues erfand wie keine ihrer Geschlechtsgenossinnen im Ausgang des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Natalija Gontscharowa war die Kunst an sich, eine andauernde Anregerin auch für Europa und die Welt. Für ihre Bewertung und Wertung ist viel getan worden in den letzten Jahrzehnten. In Ausstellungen wie in Büchern. Gontscharowas Werke zu sehen bedeutet, von Ereignis zu Ereignis zu gehen. Das ist auch so, wenn man sich mit John E. Bowlts Buch "Moskau & St. Petersburg" beschäftigt und so von ihm beschäftigt wird.

In seiner Gesamtheit ist die Publikation ein Wagnis. Sie ist ein üppig geratener Versuch des Verfassers, die  Gesamtheit dessen zu erfassen, was die enorme Substanz des "Silbernen Zeitalters" der russischen Kultur ausmachte. Als "Silbernes Zeitalter" sind die Jahre von 1900 bis 1920 etikettiert, wie die Jahre von 1810 bis 1830 als "Goldenes Zeitalter" bezeichnet werden. Jene Zeit, in der sich Russlands Literatur mit Puschkin, Lermontow und Gogol krönte. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Bowlt weiß sehr wohl zwischen den Blütezeiten in Russland zu unterscheiden. Er weiß sehr wohl, dass die bildenden und darstellenden Künste in der gesamten kulturellen Entwicklung des siechen russischen Reiches eine prägende Position hatte - stets mit Literatur und Architektur korrespondierend. Dass die Künste einander anreicherten, machte das "Silberne Zeitalter" einzigartig reich. Das war es, was die Welt zunächst nicht begriff. Nichtmal Russland wurde sich dieses Wertes bewusst. Ein Jahrhundert weiter, weiß alle Welt besser, welche künstlerischen Bewegungen in Russland waren und in wie vielem beispielhaft, im besten Fall beispielgebend. Das muss jedoch noch immer und immer verstärkter propagiert werden. Bowlts Buch ist ein Buch der Popularisierung.

Ein faszinierendes Reservoir

Im realen wie übertragenen Sinne brauchen Interessierte eine Brille für das Buch. Jede Seite hat das genaue Hinsehen verdient. Die Leser werden durch unterschiedliche, teilweise auch zu kleine Schrifttypen für Bildunterschriften und Texte stark strapaziert. Zudem muss, der Reproduktionen wegen, oft, viel zu oft, von einer Seite zur anderen gewechselt werden. Der anspruchsvolle Band stellt Ansprüche, die unnötig belastet werden. Aufmerksamkeit verlangt Wichtigeres. Vor allem die mehr als 600 Reproduktionen der Bilder, Fotos, Personen, Bauten und Dokumente. Das ist ein faszinierendes Reservoir, das im Grunde keinerlei Ablenkung verträgt. Eine Quelle, die schier überquillt!

Selbstverständlich sind Texte und Bilder einander zugeordnet. Dennoch wird die umfängliche und komplette Kunst-Kultur-Geschichte von Bowlt am besten bewältigt, wenn man sich zuerst separat den Reproduktionen zuwendet. Dann ist das Vergnügen an der Edition ungeteilt und unbeeinträchtigt. Zumindest solange man sieht, sieht, sieht. Was zu den Bildern gelesen wird, irritiert dann und wann. Zumal, wenn von einem Repin-Gemälde zu erfahren ist, dass es sich "heute in einer Sammlung in der Tschechoslowakei" (!) befindet. Ohnehin ist Repin nun wahrlich nicht einer der Repräsentanten der russischen Kunstavantgarde. Jene Symbolisten, die das "Silberne Zeitalter" vergoldeten. Die Symbolisten waren keine Gruppe, die sich manifestierte, die kein Programm hatte wie die Surrealisten. Das Programm der Symbolisten war ihr Pragmatismus, der seinen vielfachsten künstlerischen Ausdruck fand. Die Impulse, die von den Symbolisten  kamen, waren stets Impulse von Individualisten, die ihr Individualismus inspirierte. Individualistische Leistungen, die von der Kunstwissenschaft zu den Leistungen der russischen Symbolisten erklärt wurden.

Die Philosophie der Symbolisten

Diese Prägung ist auch für John Bowlt verbindlich. Dennoch konzentriert sich der Autor in sämtlichen Kapiteln darauf, die Initiativen der Individualisten, Wesen und Wirken ihrer Impulse kenntlich und erkennbar zu machen. Bowlt will die Philosophie der Symbolisten begreifen und begreifbar zu machen für die, die nach seinem Buch greifen. Das ist, wie der Autor selbst sagt, für "kunstsinnige Menschen" verfasst. Die werden für die Publikationen dankbar sein und in ihrer Dankbarkeit auch kritisch.

John E. Bowlt ist kein Historiker. Er hat das "Silberne Zeitalter" blitzblank geputzt. Der Grünspan der russischen Geschichte schimmert eher als Ahnung denn als Realität zwischen den Zeilen. Das Elend der Millionen, die brachiale zaristische Zwischenzeit, die revolutionären Stimmungen und Aktionen verschwinden fast hinter der Sichtwand, vor der das gebildete, ausgebildete, geistig oder materiell begüterte Russland erscheint. Bowlt läßt sich das Konzept nicht verderben, das keinen Zweifel an dem sehnsuchtsgesteigerten "Silbernen Zeitalter" lässt, das so phönixartig aus der Zwischenzeit emporgestiegen ist. Das Beispielhafte ist so beispielhaft, dass nicht achtlos daran vorübergegangen werden kann. Dass das klar ist, auch dafür hat John E. Bowlt mit "Moskau & St. Petersburg" gesorgt. Schwankend zwischen metaphorisch-metaphysisch verbrämtem Passagen, denen sich unbekümmerta die eines schnoddrigen Tons des kalifornischen Wissenschaftlers anschließen. Frida Kahlow kommt in die Jahre und die Zeiten. Natalija Gontscharowa wird immer jünger und zeitloser.

Bernd Heimberger
07.09.2009

 
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Das Buch:

John E. Bowlt: Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben und Kultur in Rußland 1900-1920. Aus dem Englischen von Aurelia Batlogg

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München: dtv 2009
396 S., € 29,90
ISBN: 978-3-423-34538-5

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