Romane

Unterm Schnee

Im Winter 1950/51 trifft der junge Max Schreiber, ein Historiker aus Wien, in einem Tiroler Bergdorf ein. Schreiber möchte dort zu dem hundert Jahre zurückliegenden Fall der Katharina Schwarzmann recherchieren. Angeblich war die junge Frau in besagtem Dorf einst einer Hexenverfolgung zum Opfer gefallen. Schreibers eigentliche Absicht gerät jedoch rasch in den Hintergrund, da er primär damit beschäftigt ist, sich in dem Dorf zurechtzufinden und Zugang zu den Einheimischen zu finden. Außerdem hat eine schweigsame junge Frau namens Maria sein Interesse geweckt, der allerdings ein ansässiger Bauernsohn ebenfalls heftige Avancen macht, was dazu führt, dass sich Schreiber in einer für ihn höchst unvorteilhaften Konkurrenzsituation mit einem Einheimischen widerfindet. Es kommt, wie es kommen musste. Ein Feuer, Tonnen von Schnee und schließlich ein Mord suchen das Dorf heim, und zu Max Schreiber verliert sich jede Spur.

Im Hier und Jetzt hat sich John Miller, ein achtzigjähriger Amerikaner, in ein Flugzeug gesetzt, um über den großen Teich nach Österreich überzusetzen. Dort will er im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck die Aufzeichnungen seines Cousins Max Schreiber studieren. Schreiber hatte damals nämlich - entgegen seiner ursprünglichen Absicht, die Geschichte der Katharina Schwarzmann aufzuarbeiten - seine eigene Geschichte im Bergdorf bis zum unrühmlichen Ende aufgeschrieben. Diese Unterlagen liegen im Archiv in vier Teilen vor: "Der Schnee", "Das Feuer", "Die Schuld" und "Der Tod". Der betagte Ich-Erzähler Miller trägt sichtlich schwer daran, die Erzählungen seines Cousins zu verarbeiten. Sie lassen in ihm kontinuierlich eigene Schicksalsschläge wieder hervortreten und steuern schließlich auf die dramatischen Umstände rund um den Tod seiner geliebten Frau Rosalind zu.

Dem Österreicher Gerhard Jäger, einem bis dato recht unbeschriebenen Blatt in der deutschen Literaturszene, ist mit "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod" ein richtig großer Wurf gelungen. Hält man das Buch in den Händen, wird man dank der dominierenden weißen Farbe des Einbands bereits in die perfekte Stimmung für das anstehende Lesevergnügen versetzt. Geschickt hat der Autor drei Handlungsstränge in drei verschiedenen Jahrhunderten miteinander verwoben, wobei der Leser lange Zeit im Unklaren darüber gelassen wird, was diese verschiedenen Erzählebenen denn im Innersten zusammenhält. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, einen Hauch von Literatur zu versprühen, wenn er dank seiner Sprache die beklemmende Atmosphäre in dem eingeschneiten Bergdorf glaubhaft zum Leser transportiert.

"Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod" kommt mit einer erwähnenswerten Form daher. Jäger hat die vier Fragmente aus Max Schreibers Aufzeichnungen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts über die vierhundert Seiten Buchs hinweg verteilt, während davor, dazwischen und danach jeweils der Schwenk ins 21. Jahrhundert vollzogen wird und John Miller zu Wort kommt. Dieser vollführt seinerseits wiederum den einen oder anderen Rückblick in sein eigenes Leben, wenn er beispielweise über eine Schneekatastrophe während eines Skiurlaubs in den USA sinniert, in die er und seine Frau geraten waren. Rosalinds Neigung zu indianischer Esoterik liefert einige Bilder und Symbole, deren vollständige Bedeutung der Leser erst im Laufe des Buchs zu fassen bekommt.

Die Szenerie in dem eingeschneiten und von Lawinen bedrohten Alpendorf nimmt den Leser gefangen und umschließt ihn für die gesamte Periode des Hoffens und Bangens, wenn die Menschen den angehäuften Schneemassen auf den Gipfeln hilflos ausgeliefert sind. Der Autor schafft es mit seiner literarischen Ader, den Lawinenwinter 1951, als innerhalb weniger Tage mehr als 200 Menschen in der Alpenregion den Tod fanden, greifbar zu machen, so dass man sich beim Lesen idealerweise am heimischen Kamin platziert und glücklich darüber schätzt, nicht den Naturgewalten ausgesetzt zu sein. Gerhard Jäger benötigt keine Aneinanderreihung von Action-Elementen, um seine Leser in den Bann zu ziehen. Stattdessen ist es die seiner Sprachgewalt geschuldeten Atmosphäre, die einen genau wie den Amerikaner Miller im Tiroler Landesarchiv antreibt, sich mehr und mehr in die schneeweißen Seiten dieser Erzählung zu vergraben, die aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt zu stammen scheint.

Christoph Mahnel
07.11.2016

 
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Das Buch:

Gerhard Jäger: Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

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München: Karl Blessing Verlag 2016
400 S., € 22,99
ISBN 978-3-896-67571-2

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