Romane

Ein Lesevergnügen der einsamen Spitzen- , wenn nicht sogar der Weltklasse

Ben ist 33 und hat endlich seinen Durchbruch als Romancier geschafft. Sein Erstling wird von der Kritik gefeiert und von den Lesern geradezu verschlungen. Niemand, nicht einmal Ben oder seine Agentin, hätte jemals mit solch einem überwältigenden Erfolg gerechnet. Als dann auch noch der "New Yorker" nachfragt, ob Ben für ihn eine Erzählung verfasst, zögert er nicht lange und sagt zu. Nur um kurz darauf, wieder alles hinzuschmeißen, als die Redakteure Änderungen an der Story vornehmen wollen. Nun sitzt Ben in einem Restaurant und vor ihm liegt der lukrative Vertrag eines Großverlages. Ben muss nur noch unterschreiben und alle Geldsorgen sind kein Thema mehr. Andere Probleme hingegen bleiben so hartnäckig wie der Schlamm an Bens Laufschuhen. Von diesen gibt es eine ganze Menge.

Etwas später, zurück in seinem weitaus nüchterneren Lebensalltag zwischen Food-Co-op und Ausflügen mit einem mexikanischen Nachbarskind, hat Ben eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt - und sodann beim Neurologen, denn auf dem Röntgenbild wurde Verdächtiges gefunden: einen, so bleibt zu hoffen, gutartigen Gehirntumor. Das lässt ihn viel über die Fragilität des Lebens nachdenken. Umso mehr, als seine Collegefreundin Alex ihm auf Spaziergängen u.a. über die Manhattan Bridge sagt, wie sehr sie sich von ihm ein Kind wünscht, aber in aller Freundschaft, also durch künstliche Befruchtung. Dabei wird das Wetter immer schlechter, New York leidet unter Superstürmen, Stromausfällen und Überschwemmungen. Mit der Welt geht es bergab. Was also tun? Was wird die Zukunft bringen?

In seinen Geschichten sagt Ben Lerner so wenig und zugleich so viel über das Leben, den Menschen und alles drumherum. "22:04" ist ein wunderbarer Roman über die Entstehung von Kunst, Liebe und Kindern im Abenddämmer Brooklyns - und außerdem wahrhaft origineller Lesespaß von der ersten bis zur letzten Seite. Während der Lektüre scheinen Gegenwart und ebenso Realität nicht mehr existent. Stattdessen nur noch Vergangenheit und Zukunft. Schade, dass es nicht mehr Autoren vom Format eines Lerners gibt. Dann würden die Buchläden sich nicht mehr retten können vor Käufern. Der US-Amerikaner beweist, dass es in der Literatur keine Grenzen zu geben scheint. Und er vermag noch mehr: Er lässt den Leser atem- und sprachlos zurück. Was er schreibt, ist stets eine absolute Sensation!

Ben Lerner - ohne jeden Zweifel ein großes Talent unter Nordamerikas Schriftstellern. Seine Werke sind das reinste Lesewunder. Mit diesen erfährt man Erzählkunst auf höchstem Niveau. "22:04" bedeutet Unterhaltung, die auch aus der Feder eines Jonathan Franzen hätte stammen können. Dermaßen amüsiert beim Lesen hat man sich garantiert schon lange nicht mehr. Und noch viele, viele Stunden später ist einem ganz schwindelig von diesem Lesevergnügen. Die Romane von Ben Lerner muss man unbedingt und um jeden Preis lesen.

Susann Fleischer
15.02.2016

 
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Das Buch:

Ben Lerner: 22:04. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Reinbek: Rowohlt Verlag 2016
320 S., € 19,95
ISBN: 978-3-498-03943-1

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