Romane

Absage ans Absolute

Desto mehr man liest, desto weniger werden die Bücher, die wichtig sind. Wichtige Bücher müssen keine besonderen Bücher sein. Ein besonderes Buch, das wichtig werden kann, ist der Roman „Der Junge, der die Bäume liebte“. Der Autor des Buches ist Stefano Marcelli. Marcelli? Nie gehört! Der 1958 Geborene, von Beruf Arzt, hat seinen ersten Roman publiziert. So professionell er ist, man merkts. Klassischen Strukturen des Romans fühlt er sich nicht verpflichtet. Marcelli legt sich ordentlich in Zeug, um einen kräftigen erzählerischen  Fluß zu garantieren, den er jedoch gelegentlich durch essayistische Einschübe stoppt. Der Autor, der Bewegung wie Beruhigung bestimmt, duldet eines nie: Langeweile. Der Erzähler hat den Kopf voller, auch märchenhafter Phantasien, die in seinen phantastischen Geschichten aufblühen. Mögen sich die Leser bisweilen auch fassungslos an den Kopf fassen, der Faszination der Geschichten werden sie sich kaum entziehen können und wollen. Was Stefano Marcelli zu erzählen hat, ist nicht die simple Story eines Knaben, der als extremistischer Ökofreak Aufsehen erregt. Marcelli erzählt die außergewöhnliche Story eines „Phytophilen“. Als Phytophilie bezeichnet der Psychoanalytiker Abramo Veritier die Leidenschaft eines Menschen, „der Liebe mit Bäumen macht“. Warum auch nicht? Auch das!

Wann, wo aber hatten wir einen solchen Fall in der Wissenschaft oder der Literatur? Öffentlich wird die einzigartige Geschichte, weil sich der ehrenwerte Professor Veritier ihrer erinnert. Bereits im methusalemschen Alter, nimmt der Verächter der Medien, das Porträt eines Politikers wahr, der einst sein Patient gewesen ist. Der Abgebildete ist mit dem Jungen identisch, der die Bäume liebte und dessen Fall den versierten Psychoanalytiker Veritier fast zu Fall brachte. Angestachelt durch den Jugendlichen, riskiert der alternde Professor einen Selbstversuch und erlebt einen phänomenalen Orgasmus. Der Lebens-Berufs-Erfahrene hat das Gefühl: „Ich penetriere Gott“. Peinlich? Blasphemisch? Mitnichten, sofern man nicht zu den Pingligen und Penetranten gehört, die kategorisch mit den Kategorien Statthaft und Unstatthaft operieren.

„Der Junge, der die Bäume liebte“ ist ein spinnennetzartiges, feingesponnenes literarisches Gewebe, in das sich die Fliege Psychoanalyse verfangen hat. Das Buch eine Parodie nennen, die die Psychoanalyse wie eine Seifenblase platzen läßt? Das hieße, weder dem Roman noch dem Autor gerecht zu werden. Die Geschichte des Psychoanalytikers Veritier, der sich selbst bester schlechter Berater ist, addiert alles, was die Psychoanalyse an Absoluten artikuliert und sich so, wie alles Absolute, in Frage stellt. Keine Absage an die Psychoanalyse, ist der Roman doch eine Satire, die sämtliche Absolutheitsfanatiker ohrfeigt. Der Autor führt die absoluten Ansprüche ad absurdum. Ohne der Psychoanalyse die Achtung zu versagen, verlacht Stefano Marcelli ihre Anstrengungen, alle Menschenrätsel lösen zu wollen und zu können. Den Roman „Der Junge, der die Bäume liebte“ im Sinn, ist die Psychoanalyse wieder unbeschwerter zu lieben

Bernd Heimberger
11.09.2005

 
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Das Buch:

Stefano Marcelli: Der Junge, der die Bäume liebte. Aus dem Italienischen von Irmgart Eichen

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Leipzig: Reclam 2004
238 S., € 17,90
ISBN: 3-37900-813-3

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